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"Was ist mit diesen Menschen los?"

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Der Journalist Christoph Feurstein beschäftigt sich in seiner Arbeit, wie er selbst sagt, „mit den Abgründen der menschlichen Seele“. Die Beschäftigung mit dem Thema „Pädophilie“ ergab sich auch aus vielen Gesprächen mit Opfern und Tätern und einer Reihe von daraus resultierenden Filmen. „Kein Mensch soll sich beim Betrachten meiner Filme ungerührt berieseln lassen“, beschreibt Feurstein seine Arbeit. Am 19. April steht in der ORF-Sendung Thema einmal mehr das Thema Kindesmissbrauch im Mittelpunkt. Aus Anlass dieser Sendung führte Sabine Fisch das nachfolgende Interview mit dem TV-Journalisten und Buchautor.

Frage 1

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren journalistisch mit dem Thema Pädophilie – was macht dieses Thema für Sie so besonders wichtig?

Feurstein:
Ich beschäftige mich als Journalist im Grunde seit 16 Jahren mit den Abgründen der menschlichen Seele. Ich habe mich mit sehr vielen unterschiedlichen Verbrechen auseinandergesetzt, mit Opfern und Tätern gesprochen. Beim Thema Pädophilie ist mir in den Geschichten vor allem die ungeheure Lieblosigkeit aufgefallen, die sowohl Opfer als auch Täter in ihrer Kindheit erlebt haben. Das hat mich immer weiter beschäftigt, diese Menschen wurden alle schon in ihrer Kindheit buchstäblich zerbrochen. Und Menschen, die als Kinder zerbrechen, entwickeln sich in ganz unterschiedliche Richtungen. Natürlich wird nicht jeder Mensch, der in seiner Kindheit Lieblosigkeit, Gewalt und/oder Missbrauch erlebt hat, später zum pädophilen Täter. Manche Menschen stecken ihre schreckliche Kindheit als Erwachsene scheinbar einfach weg und haben dann plötzlich Probleme, eine Beziehung zu führen, werden zu Alkoholikern oder nehmen Drogen. Viele Männer, die in einer lieblosen Familie groß geworden sind, schlagen als erwachsene Männer ihre Frauen. Das ist ja auch so ein Ausdruck der Sprachlosigkeit, von Beziehungsunfähigkeit. Ja und einige richten ihre Aggressionen und ihre Unfähigkeit Beziehungen einzugehen und zu leben, gegen Kinder. Es wird niemand als pädophiler Mensch geboren – diese Störung wird „gemacht“ – in dem man Kinder zerbricht. Das ist keine Entschuldigung für die Täter, möglicherweise aber zumindest der Ansatz einer Erklärung für ein Verhalten, das von den meisten Menschen als vollkommen unverständlich angesehen wird. Diese Männer können nicht mit Sprache umgehen, nicht mit Geborgenheit und Nähe – und dann überschreiten sie auf diese schreckliche Weise Grenzen, indem sie Kindern Gewalt antun.

Frage 2

Wenn Fälle von sexueller Gewalt an Kindern öffentlich gemacht werden, sind die Reaktionen meist einhellig: Die Täter sollen kastriert und lebenslang weggesperrt werden. Was ist das für ein Reflex?

Feurstein:
Das Thema sexuelle Gewalt an Kindern regt unglaublich auf. Kein anderes Thema ruft auch derartig radikale Reaktionen bei den Menschen hervor. Eltern wollen ihre Kinder im Normalfall um jeden Preis schützen, sie würden sogar einen Mord begehen, um dies zu tun. Ich denke aber, das ist nur die eine Seite der Medaille, die andere Seite ist die Angst vor den Abgründen in sich selbst, vor den Grenzüberschreitungen in der Sexualität, vor den Untiefen in unserer eigenen Seele. Diese Seiten an uns wollen wir gar nicht gern wahrnehmen, da ist es doch viel einfacher, mit dem nackten Finger auf einen Täter zu zeigen und zu fordern, dass diese „Monster“ weggesperrt, kastriert oder sogar hingerichtet werden.

Frage 3

Bei pädophilen Tätern handelt es sich nicht um Einzelfälle, Millionen Männer weltweit konsumieren etwa Kinderpornographie – was läuft Ihrer Ansicht nach falsch in unserer Gesellschaft, wenn so viele Männer derartigen Neigungen nachgeben?

Feurstein:
Im Internet sieht man, welche gewaltigen Dimensionen das Thema „Kinderpornographie“ hat. Mittlerweile wird damit mehr Geld eingenommen als mit illegalem Waffenhandel. Das ist ein internationales Milliardengeschäft. Da müssen wir uns doch die Frage stellen, was ist eigentlich mit diesen Menschen los? Was ist da in der Beziehungsfähigkeit zu sich selber und zu anderen Menschen irgendwann einmal zerbrochen? Wären das Einzelfälle, wäre vielleicht wirklich zu überlegen, radikale Maßnahmen zu setzen, um diese Täter „unschädlich“ zu machen. Es sind aber Millionen Männer und ich finde, da muss man andere Lösungen überlegen. Da muss man sich wirklich überlegen: Wie sind wir erzogen worden als Kinder? Wie erziehen wir unsere Kinder jetzt? Wo werden tagtäglich Grenzen überschritten, sei es nun in der Werbung, in den Medien aber auch in den Beziehungen zu Hause?

Frage 4

Sie haben in einem Interview mit einer Schweizer Zeitung gesagt, Verbrechen dürften nicht verharmlost werden, sie müssten aber erklärt werden – können Sie uns diese Männer erklären?

Feurstein:
Es ist zu einfach, auf Täter zu zeigen und drastische Maßnahmen zu fordern. Diese Männer leben mit uns in unserer Gesellschaft. Sie zu verstehen heißt auch, einen Schritt zur Veränderung zu setzen. Verständnis bedeutet für mich weder Entschuldigung noch Einverständnis für eine solche Tat. Es bedeutet aber, sich mit diesem Thema auch für sich selbst auseinander zu setzen. Ich glaube, dass nur die wenigsten Männer tatsächlich die Krankheit Pädophilie haben. Ich denke, der überwiegende Prozentsatz jener Männer, die Kinder als Sexualobjekte sehen, ist schwer verhaltensgestört. Im Gespräch mit einem Psychoanalytiker habe ich erfahren, dass pädophile Männer sehr häufig in einer sehr klischeehaften, traditionsbewussten Männlichkeit verwurzelt sind. Je patriarchaler eine Gesellschaft ist, desto mehr Missbrauch findet sich in einer solchen Gesellschaft. Diese verhaltensgestörten Männer sehen ihre Frauen und Kinder immer noch als Besitz an, denken: „Im Grunde habe ich das Sagen und kann tun, was ich will.“ Diese Männer haben auch kein Unrechtsbewusstsein. Jeder Täter, mit dem ich gesprochen habe, hat mir gesagt: „Das Kind wollte das ja, das ist ja immer wieder gekommen.“ Oder: „Es hat sich ja nicht gewehrt!“ Allein diese Situation so zu sehen, zeugt ja schon von einer enormen hochgradigen Verhaltensstörung. Diese Männer begreifen Kinder einfach nicht als verletzliche, abhängige Wesen, die Geborgenheit, Schutz, Zuneigung und Verständnis brauchen.

Frage 5

Wie werden Kinder zu Opfern?

Feurstein:
Egal, ob ich mit Opfern oder mit Tätern spreche – es ist immer dasselbe: Die Wurzeln liegen in der Kindheit: Wenn Kindern unaufgeklärt sind, wenn bei Kindern Grenzen überschritten werden, dann legt man den Grundstein für eine zerstörte Kinderseele, die letztlich zu einem gestörten Erwachsenen führt. Jedes Opfer, mit dem ich gesprochen habe, erzählte mir, es hätte sich nicht getraut, die Übergriffe jemandem zu erzählen, weil es dachte, es ist selbst schuld an dem Geschehenen. Wenn die Eltern streng sind, wenn Gewalt in der Familie alltäglich ist, wie sollen Kinder sich dann vertrauensvoll an jemanden wenden, der ihnen zuhört und vor allem – der ihnen glaubt? Es ist auch leider in vielen Fällen nicht verwunderlich, warum Kinder zu Opfern werden: Gerade jene Täter, die diese Ohnmacht in ihrer eigenen Kindheit erlebt haben, haben ein ganz sensibles Gespür dafür, wie sie Kinder finden können, denen es so ergeht, wie es auch ihnen in ihrer Kindheit ergangen ist. Es ist ein Kreislauf, wenn wir hier nicht ansetzen und das Übel an der Wurzel packen, wird sich auch nichts ändern.

Frage 6

Sie sprechen hier von einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung?

Feurstein:
Ja. Egal, ob es um sexuelle Gewalt an Kindern oder auch Gewalt gegen Frauen geht – eine Änderung wird nur möglich sein, wenn die Gesellschaft von Grunde auf umdenkt. Hier hat, meiner Ansicht nach, auch die Kirche eine immense Verantwortung! So wie die Kirche jetzt mit dem Thema „Missbrauch“ umgeht, wird das sicher nicht funktionieren. Es kann nicht sein, dass die Kirche das Thema Sexualität jetzt wieder vom Tisch fegt. Solange Sexualität als etwas Heimliches gesehen wird, werden wir das Problem niemals lösen. Meiner Ansicht nach sollte zwischen erwachsenen Menschen, die einvernehmlichen Sex haben, erlaubt sein, was gefällt. All die Heimlichkeit, die immer noch vorherrschende Homophobie, die Ablehnung von allem, was irgendwie anders ist, die Sprachlosigkeit, die führt dazu, dass alles schön unter der Decke gehalten wird, im Keller sozusagen. Das betrifft natürlich auch und gerade das Thema Pädophilie.

Frage 7

Was meinen Sie damit?

Feurstein:
Männer, die pädophil sind, die ein Unrechtsbewusstsein haben – und das haben viele dieser Männer – können mit niemandem reden. Es gibt in ganz Österreich keine Möglichkeit für Männer, die diesen Drang in sich spüren, eine Anlaufstelle aufzusuchen, sich zu öffnen, und dieses Problem zu bearbeiten – und zwar bevor etwas passiert. Es werden zudem immer noch viel zu viele pädophile Männer aus der Haft entlassen, für die es keinerlei therapeutische Unterstützung und Begleitung gibt. Das sind wandelnde Zeitbomben! Stellen Sie sich folgende Situation vor, die ich für sehr alltäglich halte: Eine Wirthaustischrunde mit zehn Männern, die sich über die sexuellen Übergriffe an Kindern durch Kirchenmänner unterhalten. Der einvernehmliche Tenor lautet: Die gehören alle kastriert, die muss man lebenslang wegsperren, das sind Monster. Jetzt sitzt da einer dabei, der pädophile Neigungen hat – der wird unter Garantie nie mehr mit irgendjemandem über das Thema sprechen, versuchen, Hilfe zu finden! Nein, der geht in den Keller und lebt dort seine Neigungen aus. Wir müssen Hilfeangebote für pädophile Männer ermöglichen! In Berlin wurde 2005 eine Beratungsstelle für Männer mit pädophilen Neigungen eingerichtet: Unter dem Titel „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist“ wird kostenlose und anonyme Beratung geboten. Innerhalb kürzester Zeit haben sich mehr als 300 Männer bei dieser Beratungsstelle gemeldet, das zeigt doch deutlich, dass nicht jeder pädophile Mann ein Monster ohne Unrechtsbewusstsein ist.

Frage 8

Was sollte Kindern mitgegeben werden, damit sie sich zur Wehr setzen können und nicht zu Opfern werden müssen?

Feurstein:
Ein erster guter Schritt wäre es, endlich die Kinderrechtscharta in die österreichische Verfassung aufzunehmen. Darüber wird seit 30 Jahren diskutiert. Kinder haben Rechte – das ist ein Thema, das allerdings weithin unbekannt ist. Kinder sollen lernen, wo ihre Grenzen sind, dass sie sich durchaus nicht alles gefallen lassen müssen. Kinder sollen lernen, dass Vertrauen und Geborgenheit, Schutz und Liebe Rechte sind, auf die sie Anspruch haben. Wir sollten unseren Kindern vermitteln, dass sie sich jederzeit Hilfe suchen können, dass ihnen geglaubt werden wird, wenn sie von Übergriffen berichten, auch dann, wenn etwa das Familiengefüge ganz schrecklich ist. Dann sollen sie wissen, dass sie sich an ihre LehrerInnen wenden können. Es muss Vertrauenspersonen für Kinder geben und die Kinder müssen wissen, dass man ihnen glauben wird. Schon im Kindergarten sollten Kinder zudem altersadäquat aufgeklärt werden – und lernen, dass etwa Gewalt gar nicht geht, dass es nicht in Ordnung ist, wenn der Papa die Mama schlägt. Kinder sollen nicht „brav und angepasst“ sein – sie sollen so früh wie möglich lernen, NEIN zu sagen, sich ihrer eigenen Grenzen bewusst zu sein und diese Grenzen auch anderen Menschen gegenüber aufrecht erhalten können.

Frage 9

Und was sollte präventiv passieren, damit Männer ihren pädophilen Neigungen nicht nachgeben?

Feurstein:
Wir müssen diese Männer öffentlich mit ihrem Problem konfrontieren. Das kann etwa mit Plakatkampagnen passieren, mit Werbespots. Dieses Thema muss aus der „Pfui-Ecke“ heraus und diskutiert werden. Solche Kampagnen wirken, und wenn sich nur bei einem pädophilen Mann angesichts einer solchen sachlichen öffentlichen Diskussion ein Schalter umlegt, dann haben wir damit wieder einige Opfer geschützt. Es ist ja nicht so, dass ein junger Mann eines Morgens aufwacht und sich denkt „ich möchte jetzt Kinder missbrauchen“. Meist äußern sich die ersten Gedanken in diese Richtung ab dem 15., 16. Lebensjahr. Da könnte man noch etwas verändern. Wenn einer aber dann Jahrzehnte im Dunkelfeld lebt, wenn niemand Bescheid weiß, weil alle die Augen verschließen, dann ist es zu spät.

Frage 10

Heute, am 19. April, wird im ORF ihre aktuelle Dokumentation mit dem Titel „Missbrauch – die Abgründe der Sexualität“ ausgestrahlt – was wollen Sie mit Ihrer Sendung erreichen?

Feurstein:
Ich möchte, dass sich niemand zurücklehnt und sagt: Das hat nichts mit mir zu tun. Denn das hat es. Ich möchte, dass sich niemand von der Sendung einfach berieseln lässt, so nach dem Motto: „Jetzt schauen wir uns ein paar arme Hascherl an und ein paar Monster.“ Die ZuschauerInnen sollen versuchen, sich in diesen Geschichten wieder zu finden. Sie sollen auch über ihre Verantwortung nachdenken. Wenn ich eine Diskussion anregen kann, wenn ich Verständnis wecken kann – dann ist die Sendung gelungen.

THEMA SPEZIAL MISSBRAUCH - DIE ABGRÜNDE DER SEXUALITÄT Montag, 19. April 2010, 21.10 Uhr, ORF 2

Eine Dokumentation von Christoph Feurstein
Seit Jahresbeginn berichten immer mehr Opfer aus Deutschland, Österreich und anderen Ländern von ihren Missbrauchserfahrungen aus der Kindheit. Die Täter sind oft verstorben, die Taten verjährt.

Reinhard, Johannes, Martin, Peter, Alexander und Max. Onkel, Ehemänner und Väter. Sie haben unterschiedliche Berufe und unterschiedliche Lebensgeschichten. Sie alle haben Kinder sexuell missbraucht oder haben Angst davor, es zu tun.

Kein Thema ruft in uns so radikale Emotionen hervor wie der sexuelle Missbrauch von Kindern. Väter und Mütter wären zu allem fähig, würde jemand ihrem Kind so etwas antun. Das Thema fördert aber oft auch Grenzüberschreitungen zu Tage, die man in der eigenen Kindheit erlebt hat. Hass auf die Täter und die Forderung nach lebenslanger Haft für Kinderschänder oder Zwangskastration sind die Folge.

Der Platz in unseren Gefängnissen würde nicht ausreichen, um alle Menschen mit pädophilen Neigungen einzusperren. Rund 50.000 Männer könnten allein in Österreich betroffen sein. Im Durchschnitt missbraucht jeder Täter vier Kinder – das wären 200.000 Opfer hierzulande, jedes vierte Mädchen und jeder siebte Bub. Die weltweite Dimension wird im Internet offensichtlich. Eine Studie zeigt, dass mit Kinderpornografie Milliarden umgesetzt werden.

Wie kommt es dazu, dass mehrheitlich Männer zu solchen Taten fähig sind? Gibt es auch pädophile Frauen? Was tun Männer ihren Opfern an? Was kann die Gesellschaft tun, um Missbrauch zu verhindern? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat Christoph Feurstein in einem „Thema Spezial“ mit Opfern, Tätern und Experten gesprochen. Er hat auch ein Präventionsprojekt der Charité in Berlin besucht, das pädophile Männer auffordert, sich helfen zu lassen. Die Kampagne läuft unter dem Titel „Nicht zum Täter werden“.

Eine Dokumentation, die aufzeigt, dass man sich mit den Tätern auseinandersetzen muss, um Opfer zu schützen.

Autor

Sabine Fisch (April 2011)