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Geilheit ist kein Tabu – der Mensch ist animalisch

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Unser Alltag steht ihr eigentlich diametral entgegen – der Geilheit, der schrankenlosen Lust am eigenen und am Körper des Partners. Doch diese Lust lässt sich (wieder)-entdecken.

Obwohl mittlerweile flächendeckend über das Thema Sexualität informiert wird (über die Qualität dieser Information sei allerdings der Mantel des Schweigens gebreitet), obwohl die Pornoindustrie allgegenwärtig ist und sogar Autos mit Sex verkauft werden, ist Sex noch lange kein enttabuisiertes Thema in unserer Gesellschaft. Im Gegenteil: Viele, sehr viele Menschen haben Probleme, über Sexualität zu reden, Probleme zu thematisieren oder dem Partner/der Partnerin mitzuteilen, was sie oder er jetzt gerade gerne hätte.

Von wegen befreit

Denn, auch wenn jeder Mensch scheinbar mittlerweile von Sex geradezu „umzingelt“ zu sein scheint, gilt Sexualität in unseren Breiten in vieler Hinsicht immer noch als „das Ding aus der Schmuddelecke“. Diese Dualität macht das Thema zum Riesenproblem. Auf der einen Seite suggerieren Werbung, Film und Fernsehen und Zeitungen und Zeitschriften, wie geil Sex ist, wie animalisch, wie befreiend und wie toll. Auf der anderen Seite leben die meisten Menschen immer noch in einem katholisch geprägten Kulturkreis, bei dem jede/jeder die Schuldgefühle wegen der eigenen sexuellen Lust quasi schon mit der Muttermilch einsaugt.

Einfach funktionieren

Dazu kommt, dass das Leben, wie die meisten Menschen es leben (müssen), nur noch sehr wenig Raum lässt für „los lassen“, „sich gehen lassen“, „der Lust ihren Platz lassen“. Menschen funktionieren – in der Arbeit, in der Familie, alles muss genau geregelt sein, alles seinen Platz haben. Und wenn ein Paar sich abends zu Bett legt, wackeln die Wände meist nicht aufgrund von zügellosem und geilem „Beischlaf“, sondern nur, weil einer der beiden schnarcht.

Wer bin ich?

Geilheit, loslassen können, sich gehen lassen können, das benötigt nicht nur Raum, es benötigt auch – und zwar im Vorfeld – eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Partner/der Partnerin. Geilheit benötigt Vertrauen, denn wenn man sich fallen lässt, sich gehen lässt, sich auf den Partner einlässt, hat Vorsicht und Zurückhaltend keinen Platz mehr.

Lustzentrum Gehirn

Am Anfang einer Beziehung oder bei einem One-Night-Stand kommt die „Geilheit“ quasi automatisch. Es reicht, den anderen zu sehen, ihn zu riechen, ihn zu spüren und schon schaltet unser Gehirn auf: „Haben wollen – und zwar sofort!“ Ja, tatsächlich spielt unser Gehirn eine ganz wesentliche Rolle, was Sexualität betrifft. Zum einen wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, wenn ein Mensch den anderen attraktiv findet. Dopamin ist eines der sogenannten Glückshormone, die im Gehirn gebildet werden. Das limbische System – es gehört entwicklungsgeschichtlich zu den ältesten Teilen unseres Gehirns – ist für die Lust zuständig. Das limbische System ist weit weg von der Großhirnrinde, in der ForscherInnen den Sitz des Bewusstseins identifiziert haben. Mit der Großhirnrinde denkt der Mensch, er oder sie handelt nach moralischen Grundsätzen, die Großhirnrinde ist der Sitz unserer Vernunft.

Ich will – jetzt sofort!

Das limbische System dagegen ist ein vollkommen amoralisches Geschöpf. Wenn es Lust hat, will es, dass diese befriedigt wird, ganz egal, ob das jetzt gerade der richtige Zeitpunkt (und der richtige Partner/die richtige Partnerin), ist, er oder sie gerade hundemüde oder total im Stress ist.

Geilheit – die Lust am Sex – und zwar sofort! – wird also ganz maßgeblich vom Gehirn gesteuert – und das ganz ohne, dass dies bewusst bemerkt wird. Allerdings haben die meisten Menschen gelernt, der eigenen Geilheit meist einen Riegel vorzuschieben, und im Prinzip ist das auch ganz gut, denn der Mensch wäre ansonsten auf seine Urtriebe reduziert – atmen, essen und fortpflanzen. Wäre das so, gäbe es keine Kunst, keine Bücher, keine erstaunlichen Bauwerke, nichts, was Kreativität hervorbringt, würde existieren.

Sexfreie Zone

Dieser Riegel allerdings hindert Paare im Beziehungsalltag nicht selten daran, sich fallen lassen, einfach hemmungslos und geil sein zu können. Eine Menge Tabus, sei es jetzt aufgrund der Erziehung oder der Alltagsgegebenheiten erschweren das schwerelose Lustgefühl, den Wunsch den Partner/die Partnerin jetzt bitte sofort zu verführen, ganz erheblich. Dies gilt nicht selten vor allem für Langzeitpartnerschaften, wo Sex zur Routine wird, Verführungen nur noch in rudimentären Ansätzen statt findet und das Schlafzimmer letztlich und im schlimmsten Fall zur „sexfreien Schlafzone“ verkommt.

Aber, wie es im Titel dieses „Themas der Woche“ heißt: Der Mensch ist animalisch: Wird Lust, wird schrankenlose Geilheit zu lange unterdrückt, kann sich das rächen. Der Partner/die Partnerin wird irgendwann nicht mehr als sexuell attraktiv wahrgenommen, man selbst sieht sich bloß noch als „Funktionseinheit“ und schließlich wird eine eigentlich liebevolle Beziehung zum Problemfall.

Fader Sex?

Wie aber kann „Geilheit“ wieder Einzug in den Beziehungsalltag halten? Das ist eine schwierige Frage, denn all jene Aspekte, die den Alltag bestimmen, können schließlich nicht einfach weggezaubert und das Tier im Menschen dagegen „herbeigebeamt“ werden. Was tun, wenn der Sex einfach „fad“ wird?

Die „Wiedererweckung“ der „Geilheit“ ist möglich, aber gar nicht so einfach. Zu festgefahren sind Gewohnheiten oft, um Änderungen auf den Weg zu bringen. Vertrauen ist ein ganz wesentlicher Faktor, Vertrauen in sich selbst und natürlich in seinen Partner/seine Partnerin. Phantasie ist ein wichtiger Aspekt: Gehen Sie doch einmal mit sich selbst auf eine fantastische Reise in Ihr Inneres und stellen Sie sich all jenes vor, was sie sich – wenn das Licht an ist, noch nie vorgestellt haben. Und dann machen Sie das gemeinsam mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin. Aber: Gehen sie es bitte behutsam an – auch wenn das auf den ersten Blick der schrankenlosen Geilheit diametral entgegen zu stehen scheint. Den Partner/die Partnerin damit zu überfallen, dass man schon immer mal gerne an einen Pfahl gefesselt und ausgepeitscht werden möchte, kann ihn/sie gehörig überfordern. Besser: Sie suchen sich gemeinsam ein Buch mit erotischen Geschichten aus, die Sie sich gegenseitig vorlesen. Oder Sie schreiben mal selbst eine erotische Phantasie auf – und Ihr Partner/Ihre Partnerin ebenso – und dann lesen Sie – jeder für sich, was der andere/die andere so denkt.

Zeit und Vertrauen

Um „geil“ zu sein, loslassen zu können, sich auf den Partner/die Partnerin wirklich einlassen zu können, ist aber vor allem eines dringend notwendig: Stellen Sie das Denken ab – in der Zeit, in der Sie mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin geilen, atemberaubenden, lustvollen Sex haben, schalten Sie Ihren Kopf ab. Das ist schwierig, das erfordert Anstrengung – am Anfang. Lesen Sie dazu auch das Thema der Woche „Was ist guter Sex?“

Sich gerne riechen:

Neben all diesen Aspekten muss bei diesem Thema allerdings auch noch ein weiterer wichtiger Punkt erwähnt werden: Sex darf riechen, Sex darf schwitzen, Sex darf schmecken. Geilheit und blitzblanke Hygiene schließen einander praktisch aus. Das Problem dabei: Fast jeder/jede ist mittlerweile daran gewöhnt, nicht nur täglich zu duschen – und am besten vor UND nach dem Sex, sich sämtliche Körperhaare regelmäßig zu entfernen und möglichst noch Deos, Intimsprays und Parfum zu benützen, um den natürlichen Körpergeruch zu überdecken. Sex am Morgen? Geht gar nicht, man hat sich ja noch nicht die Zähne geputzt!

Nichts gegen Hygiene – man will ja seinem Gegenüber in der U-Bahn oder im Büro nicht mit seinem moschusähnlichen Duft imponieren. Beim Sex aber gilt eigentlich das Gegenteil: Geil macht was gut riecht – und gut ist hier nicht der überdeckte Körpergeruch sondern Frau und Mann pur. Unsere Nase ist dafür das beste Beweismittel: Wer geil ist, Lust auf seinen Partner/seine Partnerin hat, riecht ihn/sie gern, seinen/ihren Schweiß, weil der auch verrät, dass das Gegenüber gerade ähnlich fühlt wie man selbst.

Um sich fallen lassen zu können, benötigt es Raum, Zeit, Vertrauen, Geborgenheit und etwas Mut. Diese Zeit sollten Sie sich in regelmäßigen Abständen nehmen. Wer sich Raum schafft, um auch als Paar seine Sexualität ungehindert auszuleben, wird auch das wilde Geschöpf, die Geilheit wiederfinden – und gemeinsam genießen können.

Autor

Sabine Fisch (Mai 2016)