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Harninkontinenz nach Prostatakrebsoperation
Der Verlust der Kontrolle über die Blasenfunktion ist ein verheerender möglicher Nebeneffekt einer Prostatakrebsoperation, der einen schwerwiegenden negativen Einfluss auf die Lebensqualität zur Folge hat.

Definition
Nach einer entsprechenden Prostatakrebsoperation (radikale Prostatektomie) findet sich als Nebenwirkung oft zumindest vorübergehend eine Harninkontinenz. Wenn nach einer Prostatektomie eine dauernde Inkontinenz besteht, kann mit geeigneten Tests der Blase, Urodynamik genannt, die Funktion von Blase und Blasenschließmuskel beurteilt werden, um die genauen Ursache der „Post-Prostatektomie-Inkontinenz“, also der durch Prostatektomie verursachten Inkontinenz, zu bestimmen.

Häufigkeit
Durch die hohe Zahl der radikalen Prostatektomien ist der Urologe heute trotz verbesserter Operationstechnik auch mit einer zunehmenden Zahl von Patienten mit Kontinenzproblemen unterschiedlicher Ausprägung konfrontiert. In der Literatur werden die Inkontinenzraten radikaler Prostatektomien mit 3–60 % angegeben. (Diese große Spanne ist durch die anatomischen und onkologischen Unterschiede hervorgerufen und von den operativen Möglichkeiten abhängig.) Die nach der radikalen Prostatektomie auftretende Harninkontinenz ist zu 34 % auf eine Belastungsinktontinenz (Sphinkterschwäche), in 30 % auf eine Dranginkontinenz (Detrusorüberaktivität) und in 36 % auf eine gemischte Belastungs- und Dranginkontinenz zurückzuführen.

Ursachen
Als Ursache für die Inkontinenz nach radikaler Prostatektomie kann man zum einen den durch den Wegfall der Prostata bestehenden kurzen Harnröhrenanteil vor dem Schließmuskel sehen (Wegfall der passiven Drucktransmission). Es fällt zum einen der Anteil des von außen auf die Harnröhre verschließend wirksamen Druckes weg, zum anderen ist durch die Operation die nervengesteuerte Muskulatur des Schließmuskel und des Beckenboden negativ beeinträchtigt (reflektorische Kontraktionsleistung).
Daraus lassen sich folgende Voraussetzungen für die Kontinenz nach radikaler Prostatektomie ableiten:
- Vorliegen einer vor dem Schließmuskel gelegenen Harnröhre über mindestens 2 cm für den Harnröhrenverschlussdruck in Ruhe und für die indirekte Druckübertragung bei Bauchdruckerhöhung.
- Vorliegen einer guten Aktivierbarkeit der Beckenbodenmuskulatur.
Belastungsinkontinenz (Sphinkterläsion oder Sphinkterschwäche)
Harrison und Abrams sind auf Grund ihrer Urodynamik-Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass die Patienten nach einer radikalen Prostatektomie mit Inkontinenz als sphinktergeschädigt und damit stressinkontinent betrachtet werden müssen, da auf Grund der engen Nachbarschaft des nach unten gerichteten, zugespitzten Teil der Vorsteherdrüse (Apex prostatae) und unterem Anteil des Schließmuskels (distaler Sphinkter) eine Schädigung unvermeidlich ist.
Dranginkontinenz (Detrusorüberaktivität)
Dranginkontinenz stellt die zweite Form der Post-Prostatektomie-Inkontinenz dar. Es hat sich gezeigt, dass die präoperativ bestehende Dranginkontinenz durch eine über die Harnröhre durchgeführte Operation bei Prostatavergrößerung (transurethrale Resektion der Prostata) und somit Beseitigung der Harnabflussbehinderung lediglich in 50 % geheilt werden kann. Die zweite Hälfte der Patienten mit diesem zusätzlichen Problem behält die Dranginkontinenz, die in weiterer Folge zur dauerhaften Dranginkontinenz führt. Zusätzlich kann bei Zustand nach radikaler Prostatektomie im Anastomosenbereich (genähte Verbindung zwischen Harnblase und Harnröhre, um den fehlenden Anteil der entfernten Prostata zu überwinden) eine Verengung entstehen, die eine weitere mögliche Ursache einer postoperativen Dranginkontinenz darstellt.
Misch-Inkontinenz
Die sogenannte Misch-Inkontinenz - eine Kombination aus Drang- und Belastungsinkontinenz – stellt ein ebenso häufiges Problem dar, wobei hier verständlicherweise nicht selten diagnostische Schwierigkeiten bestehen. Die Diagnose erfolgt dann, wenn die Untersuchung sowohl das Vorliegen einer Dranginkontinenz als auch einer Belastungsinkontinenz ergibt. Aus der Anamnese lässt sich häufig die dominierende Form erkennen, wonach sich die Therapie in erster Linie richtet.

Symptome
Die Symptome einer postoperativen Harninkontinenz können von plötzlichem Einnässen nach Husten, Niesen, Bewegung bis hin zum Harnverlust bei plötzlichem, unvermutetem Harndruck mit anschließender nicht unterdrückbarer Harnentleerung (imperativer Harndrang) gehen.

Diagnose
Die genannten Ursachen führen zu der operativ bedingten Harninkontinenz: Die Aufgabe der ärztlichen Diagnostik ist es herauszufinden, ob der Blasenentleerungsmuskel (Detrusor) überaktiv ist oder ob ein Abflusshindernis besteht. Desweiteren sollte der äußere Schließmuskel (Sphinkter externus) in seiner Funktion überprüft werden. Dies geschieht mittels einer sogenannten Urodynamischen Untersuchung. Diese Untersuchung umfasst eine kontrollierte Blasenfüllung mittels dünnen Katheters und eine Vergleichsmessung im Enddarm, wodurch der Blasendruck und daher auch die Blasenmuskelfunktion überprüft werden kann.

Einteilung der Inkontinenz
Nach dem Urinverlust im Vorlagen-Test lassen sich vier Schweregrade der Inkontinenz nach den ICS- Kriterien (International Continence Society) einteilen:
• Grad I = bis 2 g Harnverlust
• Grad II = 2 bis 10 g Harnverlust
• Grad III = 10 bis 50 g Harnverlust
• Grad IV = über 50 g Harnverlust
Der klinische Schweregrad der Stressinkontinenz wird nach Ingelmann/Sundberg (1952) in drei Kategorien eingeteilt:
• Grad I = Harnverlust beim Husten, Niesen, Pressen und schwerem Heben
• Grad II = Harnverlust beim Gehen, Bewegen, Aufstehen
• Grad III = Harnverlust im Liegen
Der Schweregrad der Inkontinenz ist auch davon abhängig in wie weit schon vor der Operation Probleme vorhanden waren.

Lösungsansätze
Die Therapieansätze verfolgen mehrere Konzepte, die nach und nach zum Einsatz gelangen.
Beckenbodentraining
Als Beckenbodenmuskulatur werden jene Muskelstränge bezeichnet, die vom Schambein zum Steißbein verlaufen und eine Art Schlinge um den Genitalbereich bilden: um Harnröhre, Scheide und After bei der Frau bzw. um After und Penisansatz beim Mann. Sehr viele Menschen sind sich dieser Muskulatur und ihrer Funktionen nicht einmal bewusst.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Region genau mit Beckenboden gemeint ist, kann man probeweise versuchen, beim Wasserlassen den Urinstrahl möglichst vollständig zu unterbrechen: Dabei wird spürbar, wie die Muskeln des Beckenbodens aktiviert werden.
Um den Unterschied zwischen Gesäß- und Beckenbodenmuskulatur festzustellen, setzen Sie sich leicht nach vorne gebeugt gerade auf einen harten Stuhl. Nun spannen Sie alle Muskeln rund um Ihren Genitalbereich stark an: Beim Zusammenziehen werden Sie ein leichtes Heben, beim Entspannen ein Senken des Körpers wahrnehmen: Das zeigt, dass Sie die Gesäßmuskeln einsetzen. Nun versuchen Sie, die Muskulatur im Genitalbereich anzuspannen, ohne dass es zum beschriebenen Heben und Senken kommt. Mit der Zeit gelingt die Unterscheidung der einzelnen Muskelpartien immer besser.
Um die Beckenbodenmuskulatur zu stärken, genügt eine einzige Übung: starkes Zusammenziehen. Sie kann in jeder beliebigen Körperhaltung durchgeführt werden - im Sitzen, im Stehen oder Liegen, im Bett, im Büro, im Auto usw. Ohne den Atem anzuhalten, spannen Sie den gesamten Beckenbodenbereich allmählich an, halten die Spannung einige Sekunden lang und entspannen langsam wieder. Bei einiger Übung kann in angespanntem Zustand bis zehn gezählt werden. Machen Sie die Übung oftmals täglich etwa zwei Minuten lang, jeweils mit längeren Entspannungspausen dazwischen.
Wichtig ist, bei jeder Übung die Muskeln so stark wie möglich zusammenzuziehen und die Spannung einige Sekunden lang zu halten. Dabei normal weiter atmen und den Bauch nicht einziehen! Nach der Anspannung muss eine Pause erfolgen, die mindestens doppelt so lang ist wie die Anspannungsphase.
Biofeedback
Den Reflex zur Beherrschung der Inkontinenz kann man in einem Biofeedback-Training zu kontrollieren lernen. Unbewusste emotionale und psychische Wechselwirkungen auf Nerven und Muskeln, die sich auch in Form von Inkontinenz auswirken können, lassen sich mittels Biofeedback wahrnehmbar machen und in eine Verhaltensänderung umsetzen.
Biofeedback beruht im Wesentlichen auf der Erkenntnis, dass ein Mensch jene Vorgänge, die er wahrnehmen kann, auch selbst kontrollieren kann. Mit Biofeedback werden die autonomen Vorgänge im Körper wahrnehmbar und steuerbar. Körperliche Signale wie zum Beispiel Herzfrequenz, Muskelspannung oder Durchblutung werden mit elektrischen Sensoren gemessen, aufgezeichnet und wiedergegeben. Diese Rückmeldung kann in Form von graphischen Abbildungen auf Computerbildschirmen, als akustische Signale über Lautsprecher oder durch blinkende Lichtpunkte geschehen. Innere Prozesse des Körpers werden auf diese Weise für den Betroffenen wahrnehmbar, und er kann die Vorgänge in seinem Körper bewusst erleben.
Die Körperwahrnehmung wird durch dieses Training enorm geschärft. Der Betroffene wird vom ausgebildeten Therapeuten angeleitet, seine schadhaften Körperfunktionen gezielt zu ändern. Jede noch so kleine Änderung wird sofort rückgemeldet. Der Betroffene lernt über die rückgemeldeten Signale, seine sonst autonom ablaufenden Körperfunktionen mit dem eigenen Willen zu steuern. Nach einigen Sitzungen benötigt er dann auch die elektronischen Rückmeldungen nicht mehr, und er kann im Alltag falsch ablaufende Körperprozesse rechtzeitig wieder korrigieren.
Medikamente
Inkontinenzmittel (Anticholinerika) werden vor allem bei der Dranginkontinenz verabreicht, um unwillkürliche Kontraktionen der Blase zu verhindern.
Auf der Suche nach minimal eingreifenden (invasiven) Therapieformen wurden in der Vergangenheit eine Reihe sogenannter „Bulking Agents“ verwendet. Es handelt sich dabei um verschiedene Substanzen, die durch die Harnröhre (transurethral) mit Hilfe spezieller Injektionsnadeln im Sphinkterbereich unter die Schleimhaut injiziert werden, um den Widerstand der Harnröhre zu erhöhen. Teflonpaste war eines der ersten Materialien, die zur Schleimhautunterspritzung verwendet wurden. Unter anderem wurde die Methode auch wegen der Migration (Auswanderung) der Teflonpartikel schließlich verlassen. Weitere verwendete Materialien waren Kollagen, Silikon, Silikonmikroballons sowie Bioglas. Wenngleich die Injektion von „Bulking Agents“ in vielen Fällen eine kurzfristige Besserung der Symptomatik bewirkt, haben sie sich doch langfristig nicht durchsetzen können.
Inkontinenzoperation
Es gibt verschiedene Operationsmethoden, die angewendet werden können:
Schlingensysteme: Einengung und Verlagerung der Harnröhre
Solche Systeme umfassen die Harnröhre von unten oder hinten mit einem Band, dessen Enden nach vorn-oben zum Schambein oder vorn-seitlich zum Sitzbein geführt werden. Damit wird die Harnröhre mehr oder weniger einengt und in ihre frühere Position verlagert. Die Systeme unterscheiden sich zusätzlich im Material und darin, ob eine spätere Anpassung der Spannung (Adjustierung) möglich ist oder nicht. In neuen, kleinen Untersuchungen zeigten sich zwei Systeme als sicher und effektiv: Eine adjustierbare, zum Schambein ziehende Schlinge und ein durch die Sitzbeinöffnungen geführtes (transobturatorisches) Band.
Nach weiteren neuen Untersuchungen, zum weit überwiegenden Teil an Männern mit milder bis mäßiger Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie, gilt dies auch für das derzeit am heftigsten diskutierte System, bei dem es sich um eine nicht adjustierbare durch die Sitzbeinöffnungen geführte Schlinge handelt. Dabei ergab sich, dass der tägliche inkontinenz - Vorlagenverbrauch (Einlagen zum Schutz der Kleidung bei ungewolltem Harnverlust) nach dem Eingriff deutlich absank.
Manche Autoren berichteten aber auch von Komplikationen, vor allem von Harnverhalt nach der Entfernung des Harnblasenkatheters und Wundheilungsstörungen, von der gelegentlich nötigen Wiederholung des Eingriffs und von Zusatzbehandlungen zur Verbesserung der Ergebnisse. Zudem wird darauf hingewiesen, dass sich der Einsatz bei schwerer Belastungsinkontinenz nicht empfiehlt und Langzeitergebnisse fehlen, was auf die meisten Schlingensysteme zutreffen dürfte.
Artifizieller Sphinkter: Einpflanzen eines künstlichen Schließmuskels
Dies ist als Goldstandard zur Behandlung der Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie zu betrachten. Denn seit mehr als 20 Jahren gibt es ein System, dessen Wirksamkeit und Sicherheit durch viele Studien belegt ist. Es besteht aus einer Manschette um die Harnröhre, einem kleinen Ballon unter der Haut und einer Pumpe im Hodensack, mit deren Hilfe der Patient zum Wasserlassen Flüssigkeit von der Manschette in den Ballon pumpen kann. Die Kontinenzrate liegt bei 60-93% (Anteil derer, die „trocken“ sind), wobei Komplikationen auftreten können und im Lauf der Zeit des öfteren erneute Eingriffe zur Korrektur oder zum Austausch nötig werden. Nachteilig sind der größere Eingriff, die hohen Kosten und die erforderliche Geschicklichkeit des Patienten. Technisch scheint das System noch nicht perfekt, und es gibt noch keine Langzeitergebnisse.
Derzeit sind einige angepasste, weiterentwickelte Schlingensysteme in den ersten Phasen der Anwendung und wir werden sehen, ob sich davon das eine oder andere System durchsetzen kann und eine erhebliche Lebensqualitätsverbesserung bei den Harnverlustgeplagten operierten Patienten bringt.

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