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Ich habe eine Sexualstörung

Aus Sicht der Patientin

Medium

Störung, das Wort klingt beunruhigend. Ich habe eine »Störung«. Ich fühle mich ausgeliefert. Etwas, das bisher keine Probleme gemacht hat, »funktioniert« nicht mehr, und ich habe keinen Einfluss darauf.

Nicht nur, dass es mich persönlich durcheinanderbringt, weil ich nicht mehr einschätzen kann, wie mein Körper reagiert, es bringt auch meinen Partner durcheinander. Wir waren aufeinander eingespielt, doch jetzt weiß keiner von uns beiden, wie mein Körper reagieren wird, wenn wir einander begegnen. Es fällt schwer, Worte zu finden für etwas, das ich in der Form nicht kenne.

Es fällt schwer, weil ich den Eindruck habe, die einzige Person zu sein, die diese Störung hat. Es finden kaum ehrliche Gespräche über Sexualität im Bekanntenkreis statt, in den Medien sind Sexualstörungen höchstens für eine Sensationsmeldung gut. Es ist eben »nicht normal«, eine Störung zu haben. Es ist jedoch verdammt irritierend, zu sehen, dass etwas, das ich selbst nicht will, den Partner so verunsichern und die Beziehung irritieren kann.

Am Anfang habe ich versucht, es zu kaschieren, in der Hoffnung, es würde alles wieder so wie früher, aber es änderte sich nichts. Ich versuchte, mit meinem Partner zu reden, doch wir kamen nicht weiter.

  • Wenn er verständnisvoll ist, fühle ich mich schuldig, weil ich dann das Gefühl habe, ihm etwas Schlimmes anzutun. »Wie kommt er dazu, auf Sexualität verzichten zu müssen, ICH habe doch ein Problem.«
  • Wenn er verärgert ist, kränkt mich das persönlich sehr. »Ich kann doch nichts dafür. Glaubt er etwa, ich mache das absichtlich? Ich will auch lieber, dass alles so ist wie früher.«

Das Reden hat uns nicht weitergebracht. Wir drehen uns im Kreis. Ich fühle mich schuldig, er meint, ich bemühe mich zu wenig, um das Problem loszuwerden. Er fühlt sich ungeliebt, nicht begehrenswert. Meine Versuche, trotz Problem mit ihm zu schlafen, versteht er falsch: Er glaubt, dass ich es nur mache, damit er Ruhe gibt, dabei schlafe ich trotz meines Problems mit ihm, weil ich große Angst habe, ihn zu verlieren. Er sagt, dass er keine Lust mehr hat, mit einer unbeteiligten Frau zu schlafen.

Ich bin nicht unbeteiligt, mein Körper nimmt nur alles anders wahr und ich weiß nicht weiter. »Du musst zu einem Arzt«, meint er. Das stimmt wahrscheinlich – nur zu wem? Wer ist für mich in diesem Fall zuständig?

In seiner hilflosen Wut hat er mir an den Kopf geworfen, ich gehöre ja zum Psychiater, bei mir stimme im Kopf sicher etwas nicht, denn anders sei die Veränderung nicht erklärbar. Ich bin hilflos, fühle mich allein und weiß nicht, wer mir helfen kann. Ich gehe zu meinem Gynäkologen. Weiß nicht, wie ich es ansprechen soll, erkläre hilflos mein Problem. Ich werde untersucht, er stellt fest: »Sie haben nichts.«

Also gehöre ich doch zum Psychiater? Ich traue mich nicht weiter zu fragen. Mein Partner will wissen, was beim Arzt herausgekommen ist. »Der Arzt meint, ich habe nichts.« Das sitzt.

Ab jetzt steht diese Aussage zwischen uns, denn ich weiß, dass ich etwas habe, und doch muss ich mir von meinem Arzt und meinem Partner anhören, dass ich nichts habe, dass es in meinem Kopf sei. Also bin ich psychisch krank. Wer hilft mir weiter?

(Lesen Sie dazu auch den Artikel: Sexualmedizin: An wen wende ich mich mit einer sexuellen Störung?)

Aus Sicht der Therapeutin

Solche und ähnliche Probleme höre ich täglich in meiner Praxis. Dieses »Sich-allein-fühlen« mit einem Sexualproblem, das Gefühl zu haben, die Einzige zu sein, die an so etwas leidet, nicht zu wissen, wer einem in dieser Situation weiterhelfen kann, und die Verzweiflung darüber, dass der Partner wegen einer Sexualstörung irritiert ist. In der Folge wird die Beziehung und wird auch das persönliche Wohlbefinden in Mitleidenschaft gezogen.

Sich allein fühlen

Fakt ist, dass eine Frau mit einem Sexualproblem nicht allein ist. Es gibt etliche Studien zu diesem Thema, die belegen:

Probleme irritieren, das ist keine Frage. Nicht jedes Problem jedoch erzeugt bei Frauen einen Leidensdruck. Eine Frau mit einem Problem ohne Leidensdruck wird nicht nach Hilfe suchen. Deshalb ist man übereingekommen, nur Sexualprobleme, die einen Leidensdruck erzeugen, auch als Sexualstörungen zu bezeichnen.

Unter diesem Blickwinkel sehen die Statistiken anders aus:

Was ist normal?

Die häufigste Frage, die mir Frauen in meiner Praxis stellen, ist, ob das, was sie gerade durchmachen, »normal« ist. Anfangs war ich über diese Frage immer verwundert, denn ich ging davon aus, dass Frauen doch am besten wissen, ob das, was sie fühlen, ihnen vertraut ist, also für sie normal ist oder nicht. Das eigene Körperempfinden scheint jedoch kein Maßstab dafür zu sein. Es gibt also offenbar allgemeingültige Normen für Frauen, die sie zu erfüllen haben.

Häufig kommen PatientInnen mit neuesten Statistiken zu mir, die aufzeigen, wie wir angeblich sexuell funktionieren. Ich bin sehr unglücklich über derartige Statistiken, die als Richtlinien für unser Sexualverhalten dienen sollen.

Als Kinsey in den 1950er-Jahren seinen Report über das Sexualverhalten der Frau veröffentlichte, dienten diese Daten der Entlastung, sie sollten aufzeigen, dass die vorgegebenen Moralvorstellungen nicht mit der von den Menschen gelebten Sexualität übereinstimmen. Jetzt erlebe ich, dass Statistiken medial für etwas anderes benutzt werden: Sie sollen uns weismachen, dass wir nur dann normal sind, wenn wir den Ergebnissen dieser Statistiken entsprechen.

Statistiken sollten jedoch immer mit viel Distanz und Skepsis gelesen werden. Wir sind keine »Normmenschen«, sondern unsere Vielfalt ist die Norm. Zu fast jeder bestehenden Statistik ließe sich eine Gegenstatistik erstellen, die beweist, dass auch das Gegenteil normal ist: Es kommt ja immer auf die Fragestellung an.

Lassen Sie sich von mir so weit beeinflussen, dass Sie sich selbst als die einzige gültige Instanz für Ihre Sinnlichkeit akzeptieren.

Sexualmedizinische Sichtweise

Auch in sexualmedizinischen Kreisen sorgen »weibliche Sexualstörungen« für viel Unruhe.

  • Die einen KollegInnen sind froh, dass endlich versucht wird, diese Störungen mit derselben Objektivität anzugehen wie männliche Sexualstörungen. Für sie ist es längst an der Zeit, weibliche Sexualstörungen auch auf körperliche Ursachen hin zu untersuchen und zu behandeln.
  • Die anderen KollegInnen halten dem entgegen, dass »Sexualstörungen« dadurch erst kreiert werden. Es gehe nur darum, dass jene Frauen krankgeredet würden, die den gesellschaftlichen Erwartungen einer normierten sexuellen Attraktivität nicht entsprechen. Sie befürchten, dass dies dazu dient, Störungen mit Medikamenten wegzutherapieren, statt sich den wahren Ursachen der Probleme zu widmen und diese entsprechend zu behandeln.

Wer immer sich diesem Thema stellen muss, ob Betroffene oder ÄrztInnen, muss sich wohl einen anderen Zugang dazu verschaffen. Sexualstörungen können immer dann entstehen, wenn auf körperlicher, psychischer oder sozialer Ebene das bisherige Gleichgewicht gestört worden ist. Wir haben auch festgestellt, dass Veränderungen auf einem dieser Gebiete Auswirkungen auf die anderen haben. Deshalb sind Modelle, die uns Sexualstörungen nur auf einer dieser Ebenen erklären wollen, falsch. Erst wenn wir uns die Zusammenhänge anschauen, können wir herausfinden, wo die Ursache des Sexualproblems liegt und nach einer passenden Therapie suchen.

Beispiel

Eine 45-jährige Frau klagt über sexuelle Lustlosigkeit, die sie und ihre Beziehung seit über zwei Jahren sehr belastet. Da sie einen grenzwertigen Testosteron-Spiegel hat, verschreibt ihr der Arzt ein Testosteron-Pflaster.

Dieses bringt keine Besserung der Symptomatik. Sie probiert daraufhin auf eigene Faust verschiedene Präparate, die sie über das Internet bestellt. Doch auch damit ändert sich nichts.

Es stellt sich heraus, dass die Patientin sehr wohl Lust hat, sich selbst zu befriedigen, jedoch kein Bedürfnis mehr hat, mit ihrem Partner zu schlafen, denn sie fühlt sich verletzt. Sie hat ihre Arbeitsstelle und ihren Wohnort für ihn aufgegeben und ist in seine Heimatstadt gezogen. Beide planten zu heiraten.

Er kümmert sich jedoch fast nur um seine Arbeit und verbringt außerdem sehr viel Zeit mit seiner »Noch-Ehefrau« und seinen Kindern. Er erklärt ihr, dass seine Ehefrau die Scheidung nicht so abrupt verkraften würde. So versucht er jetzt, mit mehr oder weniger Geschick, diese zu bewegen, sich von ihm scheiden zu lassen, was sie aber nicht will.

Die Treffen mit seiner Noch-Frau verletzen seine Lebensgefährtin. Leider schafft sie es nicht, offen mit ihm über ihre tiefe Kränkung zu sprechen. Sie fürchtet, dass er sich dann unter Druck gesetzt fühlt und sich von ihr abwendet. Sie beginnt, ihn immer mehr für seine Unfähigkeit, sein Leben in die Hand zunehmen, zu verachten und wendet sich innerlich von ihm ab. Der Gedanke, mit ihm zu schlafen, bereitet ihr äußerstes Unbehagen. Zuzugeben traut sie sich das aber nicht, denn dann bestünde die Gefahr, dass er mit ihr Schluss macht und sie alles verliert, wofür sie ihre Arbeit, Familie und Freunde aufgegeben hat.

Ein Testosteron-Pflaster konnte hier also gar nicht helfen. Sehr wohl half jedoch eine Therapie, zu der beide Partner kamen und in der sich diese festgefahrene und kränkende Situation langsam auflösen ließ.

Weiterführender Artikel

Quellenangabe

Dieser Text ist, mit freundlicher Genehmigung des Verlages, dem Buch Weiblich, sinnlich, lustvoll von Dr. Elia Bragagna, 2010 erschienen im Ueberreuter Verlag, entnommen.

Autor

Dr. Elia Bragagna (Februar 2011)