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Männliche Sexualität und ihre Mythen

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Wohl über kaum etwas anderes existieren so viele männliche Mythen wie über die Sexualität. Männlicher Sex ist einfach und zupackend, eben komplikationslos. Beim Mann ist klar: er hat einen Geschlechtstrieb: mächtig und geradeheraus. Mann kann immer. Mann will immer. Mann kommt pfeilschnell wie ein ICE ins Ziel.

Dieser Trivialmythos mit all seinen unglückseligen Wucherungen ist natürlich eine große männliche Selbsttäuschung. Der in den Köpfen festsitzende stereotype Mythos heißt einfach: es ist doch sonnenklar, dass ein richtiger Kerl es einfach in den Gliedern hat, wie man einen hoch kriegt, die Mädels heiß macht und eine geile Nummer liefert. Eine solche Ansicht trieft jedoch von verlogener Forschheit: Wenn Mann nicht über sexuelle Probleme spricht, gibt es auch scheinbar keine, und jeder Mann bleibt damit schrecklich allein.

Männer haben nicht gelernt, über sexuelle Unsicherheiten, Enttäuschungen und Fragen miteinander zu sprechen. Und häufig können sie dies nicht einmal mit ihrer Partnerin. Der amerikanische Sexualtherapeut Bernie Zilbergeld führt einige Mythen über den männlichen Sex an, die es zu entmythologisieren gilt. Jeder Mann, der davon hört, kann bei sich selbst überprüfen, welch irreale Fantasiemodelle im eigenen Kopf stecken. Denn Sex spielt sich zwar physiologisch vorwiegend unter der Gürtellinie ab, psychologisch wird er jedoch einen luftigen Meter höher inszeniert: im Gehirn, mit den Vorstellungen, Erfahrungen, Bildern und Begriffen, die Männer im Kopf haben.

Mythos 1: Alle nehmen’s leicht

Die sexuellen Revolutionen der sechziger und siebziger Jahre scheinen die Prüderie und die Hemmungen der Jahrhunderte davor endgültig beseitigt zu haben: Die Medien offerieren das dazugehörige Glanzbild: Alle fühlen sich wohl beim Sex. Kein Mann sorgt sich über die Funktionstüchtigkeit seines Penis oder über sein Durchhaltevermögen beim Sex. Niemand zweifelt daran, dass er sich oder seiner Partnerin ein überwältigendes Erlebnis verschaffen kann. Alle machen es gern: vaginalen, oralen, analen Sex, Sex mit oder ohne Drogen, Sex in der Öffentlichkeit, Sex mit mehreren Partnern gleichzeitig, Sex ohne Schutz vor Schwangerschaft oder Krankheiten.

Das Gegenteil dieses Mythos ist eher zutreffend: in Sachen Sex sind Männer sehr verletzlich. An einer Zurückweisung tragen sie schwer. Wenn sie einmal nicht so können, wie sie sich das vorstellen, fühlen sie sich persönlich getroffen. Sexuelle Verletzungen und Kränkungen (oder was wir dafür halten) fressen sie gerne in sich hinein. Selbst dem besten Freund würden sie sich nicht anvertrauen, und oft gestehen sie sich so etwas selber nicht einmal ein.

Mythos 2: Ein Mann ist immer bereit

Ein Mythos wie der ÖAMTC-Bereitschaftsdienst spukt in den Männerköpfen. Aber Männer sind nun einmal keine Engel der Landstraßen und keine Sex-Maschinen. Auch wenn es kaum in ihre eigenen Köpfe geht, sie sind empfindsame, fühlende, verletzliche, selbstbestimmte, ganzheitliche Schöpfungen, die abhängig sind vom körperlichen Zustand und natürlich auch von subtilen seelischen Witterungsbedingungen. Ein Mann, der seine Sensibilität überspielt und den Sex-Marathonläufer spielt, läuft im Grunde sich selbst davon.

Mythos 3: Weibliche Berührung läuft auf Sex hinaus

Frauen, so verkündet dieser Mythos, offerieren mit jeder Körperberührung Sex. Also ran an Büstenhalter und Slip! Was für ein Missverständnis! Dass Frauen offener mit Berührungen umgehen als Männer, dass sie ihre Freundin zur Begrüßung in den Arm nehmen und küssen und auch von Männern oft einfach nur herzlich gedrückt und gestreichelt werden wollen, das geht vielen Männern nicht in den Kopf. Für viele Frauen ist Berührung ein Ziel an sich: sie schmusen, um zu schmusen und nicht, um damit woanders zu landen. Es ist schön, wenn Männer und Frauen sich sexy, anziehend und begehrenswert finden, wenn erotisches Flair zwischen ihnen knistert. Aber wenn der einfachste und unbefangenste Körperkontakt schon unter Sexualität und Anmache rangiert, dann wird das Zusammensein der Geschlechter zum Kontakthof entwürdigt.

Nicht von ungefähr vermuten manche Frauen, dass die Raufereien, die Männer gerne mit ihren Kindern anfangen, einen verborgenen Zweck hätten: nämlich eine Umarmung, Körperkontakt, Zärtlichkeit zu spüren. Denn im Kontakt von Männern untereinander ist dies ja verpönt. Natürlich dürfen sich Fußballspieler auf die Schulter klatschen oder nach einem gelungenen Tor um den Hals fallen. Berührungen unter Männern sind meistens tabu. Jeder argwöhnt sofort Homosexualität, und die panische Furcht davor ist nun einmal männliches Gemeingut.

Mythos 4: Guter Sex ist das Ergebnis von Technik und Leistung

Männer sind ständig versucht, Sex zur Leistung zu machen. Wie oft fragen sie sich: War die Erektion gut? War ich ausdauernd? Wie schnell kam ich zum Orgasmus? Habe ich sie zufrieden gestellt? Habe ich einen zweiten Höhepunkt geschafft? Wie viele Orgasmen habe ich meiner Partnerin beschert?
Die Ausrichtung auf Leistung erklärt, warum Männer so scharf auf Messwerte sind. Wie groß ist meiner, wie lang dauerte es, wie viele Orgasmen gab es? Und sie erklärt auch, warum manche Männer sich mit Sex brüsten: Denn was bringt eine hohe Leistung ein, wenn niemand darum weiß?

Jeder hat für sich selbst und mit seiner Partnerin die ihm angemessene und die für diese Beziehung stimmige Sexualität zu entdecken. Das macht Angst. Aber da, wo die Angst ist, besagt ein altes Therapeutenwort, da geht es lang!
Männer täten überhaupt gut daran, das Element des Spiels in Sexualität und Erotik wieder zu entdecken. Zweckfrei und ohne Hintergedanken auf eine Entdeckungsreise zu meiner Partnerin gehen, experimentieren, ausprobieren, Neues wagen, der Routine widerstehen - wie spannend könnte das werden! Ich muss nicht alles von vornherein schon wissen. Ich kann es erkunden, spielerisch lernen, was meiner Partnerin und mir gut tut, was uns anmacht, weckt, begeistert und schließlich über die Lust hinaus in sexuelle Ekstase lockt und treibt.

Mythos 5: Männer sollten Gefühle weder haben noch zeigen

So trivial es klingt, so ernst ist es: auch der Mann hat Gefühle und braucht Gefühle. Er ist hungrig nach Berührung und nach Zärtlichkeit. Aber der durchschnittliche Mann in unseren Breiten hat nicht von seinem Vater gelernt, Gefühle zu zeigen, Gefühle auszudrücken und sich ihnen anzuvertrauen. Ein Junge schmust nicht. Er ist in dieser Beziehung vaterseelenallein. Viele Männer erzählen z.B., dass sie mit einer Frau ins Bett gehen, obwohl sie eigentlich (nur) umarmt und gewärmt werden wollen, ein zärtliches Wort oder Trost hören wollen. Vielleicht fühlen sie sich allein, überfordert oder mutlos. Aber genau diese Bedürf-nisse getrauen sie sich nicht ihrer Partnerin einzugestehen. Eher würden sie sich die Zunge abbeißen. Sie fürchten, als Weichling, Schlappschwanz oder weibisch angesehen zu werden.

Natürlich macht Sex unter Ausschluss von Gefühlen nicht satt. Er zementiert vielmehr die Einsamkeit und emotionale Unterversorgung. Und die Frau weiß nicht, was im Herzen ihres Liebsten wirklich vorgeht. Eine hilflose, weil falsch platzierte sexuelle “Vereinigung” verstärkt die innere Entfremdung und Sprachlosigkeit der Liebenden, anstatt Brücken zu schlagen. Die beiden sind miteinander intim und in Wirklichkeit seelisch Lichtjahre voneinander entfernt.

Mythos 6: Ohne Erektion läuft nichts

Im Mythenland der männlichen Sexualität gibt es nur drei Penisgrößen: lang, extralang und so groß, dass er nicht durch die Tür passt. “Gewaltig, riesig, enorm” sind in Romanen die üblichen Attribute. So ein Penis ist nicht nur von Anfang an schon riesig, er kann beim Verkehr sogar noch größer werden. Nicht nur lang ist er, sondern auch hart wie Stein, wie ein Diamantschneider, wie Kruppstahl. Und diese Ungeheuer weisen ein Übermaß an Lebendigkeit auf: unentwegt springen sie hervor, schnellen empor, pochen und stoßen sofort. Nirgendwo liest man von einem Penis, der erst einmal ruhig hervor lugen würde, um nachzusehen, was überhaupt los ist, bevor er sich ins Getümmel stürzt.

Der Penis hat automatisch zu funktionieren. Kein Regen, Schnee oder Hagel darf den Phallus von seiner Pflicht abhalten. Gleichgültig, ob sein Besitzer krank oder gesund, müde oder frisch, abgelenkt oder ganz bei der Sache ist, ob er seine Partnerin mag oder nicht, ob er verärgert ist oder nicht, nervös oder entspannt, ob sein Glied stimuliert wurde oder nicht - der Penis sollte sofort in voller Bereitschaft stehen und seine Mannespflicht erfüllen können.

Der Penis im Mythenland zeichnet sich durch sein Durchhaltevermögen aus: er kann es buchstäblich die ganze Nacht lang. Ein Mann, der in erotischen Situationen ohne steinharten Penis auftritt, erscheint so fehl am Platz wie ein Zimmermann bei der Arbeit ohne Metermaß und Hammer.

Nichts gegen eine schöne Erektion. Aber ist es ein Drama, wenn das Wunderhorn einmal nicht steif wird? Welche warmherzige Frau wird das als Versagen betrachten oder gar verspotten? Kein Penis gehorcht dem Verstand oder dem männlichen Willen. Er ist ein Organ, das seiner eigenen Logik folgt und seine eigene Weisheit besitzt. Will sich eine Erektion nicht einstellen, dann sollte der Mann sensibel mit sich selbst umgehen. Es gibt einen Grund dafür: vielleicht in seinem Körper, vielleicht in seiner Seele, vielleicht in dem augenblicklichen Zustand der Beziehung.

Selbstverständlich kann man sich im Bett auch ohne Erektion nahe kommen. Man kann sich streicheln, massieren, berühren und berühren lassen, liebkosen, kann einander gut tun auch ohne Erektion. Und braucht nicht darauf zu verzichten, auch seiner Partnerin gut zu tun, sie zu berühren und zu erregen. Manchem soll gar die Abwesenheit der Erektion erst zum Erwerb besonders wohltuender Kunstfertigkeiten geholfen haben!

Mythos 7: Sex ist ein genitaler Kraftakt

Viele Männer haben nicht gelernt, ihr Begehren erotisch differenziert auszudrücken. Männer verhalten sich Frauen gegenüber oft wie im Selbstbedienungsladen: Zugreifen ohne nachzufragen. Das Pornokino im Kopf, neigen Männer dazu, Frauen beim Sex zu Kleinholz zu verarbeiten. Auf Biegen und Brechen muss Manneskraft demonstriert, der Bizeps in den Penis verlegt werden.

Dieser Mythos verweigert es dem Mann, den Eros gemächlich, zart, mit Plaudern, Lachen, Pausen und Zärtlichkeit zu genießen. Sex ist sogar auch ohne Koitus vollwertiger Sex. Küsse, Zärtlichkeiten, Streicheln, Massagen, manuelle Stimulation, orale Stimulation, all dies an sich selbst und am Partner gehören zum weiten Land der Sexualität, wollen erforscht und experimentierend entdeckt werden. Der Wert und die Schönheit einer sexuellen Begegnung sind nicht abhängig vom koitalen Orgasmus, sondern allein von der Schönheit, Intimität und Aufmerksamkeit des Kontakts.

Mythos 8: Sex ist spontan

Sex sollte sich nach dem Populärverständnis der Männer natürlich und von selbst ergeben. Sex kann einfach jeder Mann so wie Rad fahren oder Fußball. Alles ergibt sich von selbst, Hauptsache, man verheddert sich beim Ausziehen nicht in der Unterhose. Nichts ist aber falscher als diese naive Ideologie der Spontaneität. In Wirklichkeit ist Sex ein äußerst komplizierter und differenzierter Vorgang. Er ist kompliziert erlernt, abgeschaut, erfahren, ist kulturell und religiös geformt und verformt, ist von subversiver Sprengkraft.

Wer Sexualität nicht lernt, sich nicht kundig macht, seine Sehnsüchte nicht ausspricht, den Partner nicht befragt, keine erotischen Vorbilder sucht, der bleibt ein Analphabet im Fleisch. Viele Menschen haben keine Probleme damit, Verabredungen, Feste, Ferien und gesellschaftliche Ereignisse zu planen. Aber weil Sex, selbst in der Ehe als etwas betrachtet wird, das nicht ganz in Ordnung ist, suchen viele Männer sich lieber einen verstohlenen Weg hinein - und nennen das dann Spontaneität. Denn Sex zu planen würde das Reden darüber mit einschließen, etwas, bei dem sich die meisten Männer verlegen und unwohl fühlen.

Mythos 9: Zum guten Sex gehört es, gleichzeitig zu kommen

Viele Männer sind selbstverständlich davon überzeugt, dass es zu einem guten Sexualleben gehört, miteinander und möglichst gleichzeitig den Höhepunkt zu erleben. Aber ein Mann kann noch so erfahren und sexuell anziehend sein, letzten Endes bringt er eher eine Kuh auf den Kölner Dom als eine Frau zum Orgasmus. Denn ihr Orgasmus ist ihre Angelegenheit und kann im Zweifelsfall allen Zärtlichkeiten, Stimulationen und erregenden Inszenierungen widerstehen. Er kommt wie von alleine oder gar nicht. Sein Erscheinen ist eben nicht nur von den Künsten des Mannes, sondern ebenso von der Lebensgeschichte und der aktuellen Befindlichkeit der Frau abhängig.

Ein Mann begibt sich also in ein ungutes Abhängigkeitsverhältnis, wenn er seine Potenz in ihren Schoß legt und ihre Orgasmen darüber entscheiden lässt, was seine Potenz wert ist.

Der eigene Gemütszustände, die Einstellung der Partnerin zu ihrem Partner und die Einstellung zu ihr, das Verhältnis, das Männer zu sich selbst haben, körperliche und mentale Stimulation, Umweltbedingungen wie bestimmte Orte und Zeiten und eine Reihe anderer Dinge haben großen Einfluss darauf, wie viel Sex ein Mann haben will, wie erregt er wird, wie sehr er ihn genießen kann und wie er sich dabei verhält. Der entscheidende Punkt, um besseren Sex erleben zu können, besteht darin, herauszufinden, was der Mann wirklich braucht und will. Das erfordert viel Nachdenken, in sich Hineinhören, aber auch das Gespräch mit der Partnerin und Freunden und Freundinnen. In diesem Fall hilft Offenheit sehr, ohne dabei die eigenen Grenzen aus den Augen zu verlieren.

Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors, Günter W. Remmert, veröffentlicht. Gekürzt und bearbeitet von Sabine Fisch.

Autor

Günther W. Remmert (Dezember 2011)