Sexualität im Alter - Interview mit Dr. Elia Bragagna
Die heutige Generation 50 plus ist so jung und vital wie zu keiner Zeit zuvor. Längst wurde sie als aktive Käuferschicht für die Wirtschaft wahrgenommen, längst ist sie als starke Gruppe in der Gesellschaft etabliert. Nur in einem Punkt hält sich hartnäckig ein Tabu: Sexualität im fortgeschrittenen Alter wird nach wie vor als anrüchig betrachtet. Ab einem „gewissen Alter“ mutiert man in den Köpfen der meisten zum geschlechtslosen Neutrum, das mit einem Kuss auf die Wange schon die Grenze des gesellschaftlich Tolerierten erreicht hat. Doch das Bedürfnis nach Sexualität kennt in Wahrheit keine Altersgrenze. Lust und Liebe sind nicht an ein Geburtsdatum gebunden und nicht an einen makellosen, faltenfreien Körper. Die Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna erklärt, wie man sich die Sexualität über die Jahre bewahren kann. Und wie sie sich verändert.

Interview
Sexualität im fortgeschrittenen Alter wird nach wie vor als anstößig empfunden, selbst von vielen aus der Generation 50 plus. Warum ist das so?
Bragagna: Eigentlich dürften wir in unserer Gesellschaft ja gar nicht altern. Ich möchte Menschen ermuntern, auch im Alter für Verliebtheit und Sex offen zu sein. Wir bleiben nämlich prinzipiell sinnlich bis zum Tod! Wenn es um Sexualität geht, existieren keinerlei Vorschriften was richtig ist. Es darf aber auch kein Druck entstehen, immer “zu wollen” oder “zu müssen”. Gerade im fortgeschrittenen Alter kann Quantität durch Qualität ersetzt werden. So wie sich die emotionale Beziehung zwischen zwei Menschen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verändert, so verändert sich auch ihre Sexualität. Das sollte immer beachtet werden. Denn wer sich einem Leistungsdruck unterwirft, begünstigt Erkrankungen und Sexualstörungen.
Wird Sexualität mit den Jahren komplizierter?
Bragagna: Durch das Zeitphänomen immer jung bleiben zu müssen, wird generell kaum thematisiert, wie wir uns mit der Zeit auch sexuell verändern. Die Lustlosigkeit nimmt im Alter sicher zu und die Erregung erfolgt seltener oder langsamer. Viele fühlen sich von ihrem Partner sexuell auch nicht mehr so angezogen wie früher. Das Dilemma ist oft auch, dass viele trotz ihres großen Erfahrungsschatzes nicht recht wissen, wie sie ihn einsetzen sollen.
Fehlen die sexuell aktiven älteren Vorbilder?
Bragagna: Genau, das ist ein wesentlicher Punkt! Viele der Unsicherheiten, was man mit seinen sexuellen Gefühlen machen soll, resultieren auch daraus, dass es uns in diesem Bereich an Vorbildern fehlt. Die Elterngeneration der heute Älteren hat in den allerseltensten Fällen ihre Sexualität frei ausgelebt. Es gibt auch nicht viele prominente Paare jenseits der 60, die offen zu ihrer sexuellen Aktivität stehen. Das macht es schwer, sich zu orientieren und aus dem Tabu auszubrechen.
Kommen in Ihre sexualtherapeutische Praxis mehr Männer oder mehr Frauen?
Bragagna: Paare sind eindeutig in der Mehrheit. Das ist auch wichtig, denn es nützt nichts, wenn ich nur mit einem Partner rede. Die meisten kommen mit eindeutigen Symptomen, wie Lustlosigkeit, Lubrikations-,Errektions- oder Orgasmusstörungen oder Schmerzen. Oft finde ich keine organische Ursache. Dann begeben wir uns gemeinsam auf die Suche der Ursache, um anschließend die passende Lösung zu finden. Wenn sich einer zurückzieht, dann geht damit oft auch der Verlust von Nähe und Zärtlichkeit einher – für beide. Sex bedeutet ja nicht unbedingt den Geschlechtsverkehr zu vollziehen, sondern auch Zärtlichkeiten auszutauschen, einander zu streicheln, die Haut des anderen zu spüren und sich nahe zu sein.
Besonders Frauen können darunter leiden, wenn ihr Körper zu altern beginnt. Gibt es ein Rezept, um sich trotz Falten und verändertem Körper begehrenswert zu fühlen?
Bragagna: Wenn ich als Frau zu mir und meiner sinnlichen Ausstrahlung stehe, wenn ich mich pflege und auf mich achte, dann finde ich jederzeit Partner. Sexualität hat nichts mit Makellosigkeit zu tun oder mit Perfektion. Man kann sehr viel tun, um anziehend zu wirken, das hat nichts mit gängigen Schönheitsidealen zu tun. Wichtig ist, sich in seiner Haut wohlzufühlen, dann strahlt man das auch aus.
Manche Frauen ziehen sich in der Menopause jedoch eher zurück, obwohl sie genug Testosteron hätten. Oft beschreiben sie aber auch, dass ihre Vagina “austrocknet” und “schrumpft”. Dann kann ich nur raten, Hilfsmittel, die die moderne Medizin heute bietet, auch anzunehmen. Es spricht nichts dagegen, unter ärztlicher Aufsicht Hormone einzunehmen, um den Östrogenmangel zu regulieren, lokale Östrogene einzusetzen oder Salben zu verwenden, wenn dadurch das Lustempfinden und der Erregungsaufbau unterstützt werden. Man muss es sich nicht unnötig schwer machen.
Eine völlig andere Sache sind hingegen Genitaloperationen, wie etwa Schamlippenkorrekturen, mit denen einem völlig absurden Idealbild nachgeeifert wird. Solche Eingriffe sind höchst riskant, denn dabei können sensible Nervengeflechte zerstört werden, die für die Empfindung zuständig sind.
Mit zunehmendem Alter nehmen bei Männern Erektionsstörungen zu. Was kann man dagegen tun?
Bragagna: Für die meisten Männer, auch für die älteren, ist die Penetration ein besonders wichtiger Teil der Sexualität. Wenn das Paar gerne Sex hat und die Erektionsfähigkeit abnimmt, dann ist es völlig legitim, zu Potenzmitteln zu greifen. Doch auch hier gilt: nur unter ärztlicher Aufsicht und keineswegs einfach aus dem Internet bestellen. Die Gefahr, dabei auf Medikamentenfälschungen zu stoßen, ist sehr hoch!
Ist Sex im Alter so etwas wie ein Jugendelixier, um vital und ausgeglichen zu bleiben?
Bragagna: Unbedingt! Denn beim Liebesspiel werden zahlreiche Botenstoffe ausgesendet, die einfach glücklich und zufrieden machen. Für erfüllte Sexualität im Alter gilt nichts anderes als für Sexualität in der Jugend: Jedes Paar muss für sich herausfinden, was Freude macht und an welchem Punkt man sich treffen kann – ohne Stress und Druck. Wichtig ist auch, sich nicht zu vernachlässigen, auch nach langen gemeinsamen Jahren noch auf sich zu achten, auf seinen Körper, inkl. Körperpflege und -hygiene. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun: gegenüber sich selbst und gegenüber dem Partner.
