Sexuelles Verlangen bei der Frau

„Ist es eigentlich normal, dass ich keine Lust mehr auf Sex habe?“ Dies dürfte wohl eine der häufigsten Fragen sein, mit der der Frauenarzt/die Frauenärztin im sexualmedizinischen Kontext konfrontiert wird. Bereits diese scheinbar einfache Frage verweist auf einige der Schwierigkeiten, denen sich PraktikerInnen beim Beschwerdebild des verminderten sexuellen Verlangens gegenüber sehen und die von der Frage, was als „normal“ gelten kann, über Unklarheiten der Begrifflichkeit bis hin zu den therapeutischen Möglichkeiten reichen.

Die vielen Unsicherheiten erzeugen bei ÄrztInnen oft ein Gefühl der Ohnmacht bei gleichzeitig hohem Problemlösedruck, was typischerweise entweder zu einem eher resignativen und abwehrenden Verhalten führt oder aber zu zwar gut gemeinten, aber meist eher untauglichen „guten Ratschlägen“ (Entspannen, Sexpause, Wellnesswochenende, neuer Partner und ähnliches).

Dabei ist zu betonen, dass die meisten Frauen sehr wohl um die Komplexität ihrer sexuellen Probleme wissen und keine Patentlösung von ihrer Ärztin/ihrem Arzt erwarten, wohl aber, dass sie/er sich des Problems annimmt und als AnsprechpartnerIn zur Verfügung steht. Wie in den vorangegangenen Folgen soll es daher weniger um eine systematische Darstellung der Störungsbilder gehen, sondern um die Aspekte, von denen wir annehmen, dass sie für den Praxisalltag des Frauenarztes/der Frauenärztin am bedeutsamsten sind.

Begriffsklärung

Der englische Terminus „disorders of sexual desire“ wäre im Deutschen grundsätzlich mit Störung der sexuellen Lust zu übersetzen. Allerdings ergibt sich dabei das Problem, dass Lust im Deutschen sowohl die Bedeutung von „Lust auf“, also im Sinne des motivationalen Aspekts, als auch die Bedeutung von „Lust bei“ im Sinne von Genuss und Befriedigung hat (englisch: „pleasure“ und „satisfaction“).
Wenngleich in aktuellen Konzepten der sexuellen Reaktion beide Aspekte für das sexuelle Erleben der Frau als wichtig angesehen werden, beziehen sich die Probleme, um die es in der Realität geht, doch primär auf Antrieb, Interesse oder Motivation zur Sexualität. Daher ist es im Deutschen präziser, von Interesse, Verlangen, Appetenz oder (etwas gravitätisch) Begehren zu sprechen.

Nun wird kaum eine Frau Ihrem Arzt/Ihrer Ärztin sagen, dass sie eine Minderung des sexuellen Verlangens oder der Appetenz hat, sondern sie wird Begriffe wie Lust oder Interesse verwenden. Für den Arzt/die Ärztin ergibt sich daraus die Möglichkeit, bereits bei der Begriffsklärung gemeinsam mit seiner/ihrer Patientin („was meinen Sie genau, wenn Sie von ……… sprechen?“) ein erste diagnostische bzw. differentialdiagnostische Zuordnung vorzunehmen.

Im Folgenden werden vorwiegend die Begriffe Appetenz und Verlangen verwendet, aus Gründen der sprachlichen Abwechslung aber auch gelegentlich der Terminus „Luststörung“, immer bezogen auf die motivationale Dimension. Zudem sei darauf hingewiesen, dass sich zum Teil auch im deutschsprachigen Raum die englische Abkürzung „HSDD“ (hypoactive sexual desire disorder) eingebürgert hat, die aber ebensowenig Verwendung finden soll wie das Kürzel „FSD“ (female sexual dysfunction).

Erscheinungsformen der Störung sexuellen Verlangens

Sexuelles Begehren, sexuelle Motivation, Verlangen, Appetenz, sexuelle Lust oder Sexualtrieb sind Begriffe, die einen internal oder external bedingten Impuls zu sexueller Aktivität beschreiben.

Ende der 1970er Jahre wurden die Störungen der sexuellen Appetenz von Helen Singer Kaplan als eine umschriebene klinische Einheit beschrieben. Es wurde außerdem erkannt, dass viele der genitalen weiblichen Funktionsstörungen wie zum Beispiel Schmerzen beim Intimverkehr eine Folge des Defizits an sexueller Motivation darstellen.

Im DSM-III (APA 1980) wurden die Störungen des Sexualverlangens zunächst als gehemmtes Sexualverlangen („inhibited sexual desire“) bezeichnet und später zur Vermeidung der Verursachungsannahme in den ursachenneutralen Begriff vermindertes Sexualverlangen („hypoactive sexual desire“) umgewandelt.

In der ICD-10 werden drei Ausprägungsformen des klinischen Bildes unterschieden:

• Appetenzverlust • Sexualaversion oder Sexualphobie und • Mangelnde sexuelle Befriedigung

und im psychiatrischen Klassifikationssystem DSM-IV zwei Symptombilder klassifiziert:

• Störungen mit verminderter sexueller Appetenz und • Störungen mit sexueller Aversion

Weiblicher Appetenzverlust

Laut ICD-10 liegt ein weiblicher Appetenzverlust dann vor, wenn die Frau von einem Mangel oder einem Verlust des sexuellen Verlangens berichtet, welcher zu einer seltenen Initiierung von sexuellen Kontakten oder auch zu wenigen oder kaum vorhandenen sexuellen Kontakten führt. Oft steht die Symptomatik auch in Verbindung mit einer geringen sexuellen Zufriedenheit des Partners. Der Mangel oder Verlust des sexuellen Verlangens äußert sich aber auch in einer Verminderung der Suche nach sexuellen Reizen, des Denkens an Sexualität mit Verlangen oder Lust und einer Verminderung von sexuellen Phantasien.

Mit dem Mangel an sexuellem Verlangen geht nicht unbedingt (aber meistens) ein Mangel an sexueller Befriedigung oder Erregung einher. Interesse an sexuellen Aktivitäten oder Masturbation kann bestehen, jedoch seltener als nach Alter und Umständen zu erwarten wäre.

Sexuelle Aversion

Eine sexuelle Aversion ist im Vergleich zu einem sexuellen Appetenzverlust dann zu diagnostizieren, wenn die Vorstellung von sexuellen Kontakten mit negativen Gefühlen verbunden ist und soviel Angst und Furcht erzeugt, dass sexuelle Handlungen vermieden werden. Bei einer intensiven und irrationalen Angst vor realen oder antizipierten sexuellen Situationen wird auch von einer Sexualphobie gesprochen. Sie ist gekennzeichnet durch Furcht, manchmal auch Ekel vor bestimmten Aspekten der Sexualität wie zum Beispiel Koitus, Ejakulat, männliche Geschlechtsteile und wird möglicherweise begleitet von Panikattacken mit körperlichen Symptomen wie Zittern, Herzrasen und Übelkeit. Eine Folge dieser Störungsform ist oft eine massive Sexualvermeidung.

Entwicklungsverläufe

Es wird aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsverläufe der Appetenzstörungen bei Frauen zwischen einer primären (lebenslang vorliegenden) und einer sekundären (erworbenen) Form unterschieden.

Primäre Form Bei der primären Form besteht die Symptomatik bereits bei Beginn der sexuellen Entwicklung, oft - aber nicht immer - assoziiert mit negativen bzw. traumatischen sexuellen Erfahrungen.

Sekundäre Form

Bei der sekundären Form bildet sich die Symptomatik erst im Verlauf der sexuellen Biographie, zumeist innerhalb einer langzeitigen Partnerschaft aus.

Häufig können die Frauen mit einer sekundären Form keine Ursachen nennen, oder sie glauben, dass die Ursache ausschließlich bei ihnen oder nur körperlich zu suchen sei. Im Verlauf der Sexualanamnese berichten die Frauen jedoch häufig, dass sie in der Interaktion mit ihrem Partner ihre Bedingungen für eine lustvolle Sexualität nicht finden oder auch nicht realisieren. Dies resultiert daraus, dass die Frauen ihre Bedingungen oft nicht genau kennen und deshalb nicht kommunizieren oder bewusst herbeiführen oder gestalten können. Die Ursachen für ein „Abschalten“ der Lust können je nach Persönlichkeitsstruktur vielfältig sein und sind individuell zu explorieren.

Leidensdruck

Wie aus den Ausführungen zur Klassifikation zu entnehmen ist, sollte der Frauenarzt/die Frauenärztin im Gespräch zunächst versuchen, die Symptomatik seiner/ihrer Patientin einer der beiden Prägnanztypen der Appetenzstörung zuzuordnen („stille“ bzw. „neutrale“ Minderung des sexuellen Verlangens versus Aversion). Gleichzeitig sollte dem Frauenarzt/der Frauenärztin aber bewusst sein, dass die Appetenzstörungen ein breites Spektrum umfassen, das von einem mild ausgeprägten Desinteresse bis hin zu einer massiven Aversion gegen sexuelle Kontakte reicht.

In der häufigsten Form, der „stillen“ oder „neutralen“ sexuellen Störung durch vermindertes sexuelles Verlangen, hat die Frau kein aktives Interesse an der Sexualität, obwohl sexuelle Kontakte - wenn sie stattfinden - durchaus lustvoll und angenehm erlebt werden können. Das führt aber nicht dazu, dass die Frau von sich aus bald wieder Sex haben möchte. Es besteht gleichsam eine Indifferenz oder Neutralität gegenüber Sexualität, bei der es keine „Zugkräfte“ mehr zu geben scheint, die für die Frau als Motivatoren wirken können.

Das heißt auch: Sexualität wird häufig als etwas Überflüssiges oder Fremdes erlebt, auf das verzichtet werden kann. Viele Frauen berichten ferner, dass der „Motor“ nicht mehr anspringe oder dass sie sich wie „ausgeschaltet“ fühlen, sexuelle Aktivitäten über sich ergehen lassen und hoffen, dass diese bald wieder beendet sind. Einige Frauen berichten aber auch, dass sie - wenn sie eine „Schwelle“ überwunden oder eine „Mauer“ durchbrochen haben - durchaus genussvolle Sexualität erleben können. Dieses angenehme Erleben hat jedoch merkwürdigerweise meist keine steigernde Wirkung auf ihre Lust, was für die Frau selbst rätselhaft ist.

Auswirkungen auf Partnerschaft

Der Leidensdruck bei Frauen mit sexueller Appetenzstörung besteht aufgrund des häufig vorliegenden „Abschaltmechanismus“ weniger in der Symptomatik an sich als vielmehr in den damit verbundenen Auswirkungen auf die Partnerschaftsdynamik und auf das eigene Selbstwertgefühl als Frau. Häufig berichten die Frauen von folgenden Partnerschaftsdynamiken:
Der Mann drängt auf Sexualität, die Frau fühlt sich unter Druck gesetzt, und aufgrund der Sorge, verlassen zu werden oder den Mann zu frus trieren, lässt sich die Frau auf den Wunsch des Partners ein, ohne jedoch dabei eine erfüllende Sexualität zu erfahren. Der Mann erfährt Sexualität mit seiner Partnerin, nimmt jedoch wahr, dass sie wenig erfüllend ist und hat ein unangenehmes Gefühl dabei, thematisiert dies auch, jedoch beide wissen keine Lösung für das Problem.

Der Mann wünscht Sexualität, die Frau antizipiert jedoch, sich aufgrund der fehlenden Lust wieder benutzt zu fühlen und weist den Wunsch des Partners zurück. Dadurch fühlt sich der Partner oft als Mann entwertet oder in seinem Wunsch frustriert und zieht sich nach mehrmaligen Versuchen zurück, oder er wird vorsichtiger, so dass letztlich beide auf ihren Positionen verharren und die Initiierung sexueller Kontakte ausbleibt.

Symptome

Hinsichtlich der Symptomdynamik lassen sich zwei typische Verläufe unterscheiden:
Der Appetenzmangel ist das primäre Problem, das dazu führt, dass mit der Zeit meist dann auch die Erregungsfähigkeit nachlässt und das Erleben eines Orgasmus immer seltener wird. Subjektiv empfindet die Frau immer stärker, dass sie sexuelle Kontakte nicht „braucht“ und gut ohne Sex auskommen könnte. Der Wunsch nach Zärtlichkeit und Intimität ist aber nach wie vor vorhanden, manchmal sogar verstärkt. Genau diese Wünsche werden aber meist nicht mehr befriedigt, da die Frau körperliche Nähe meidet - aus Angst, dass der Partner dann „mehr“ möchte.

In vielen Fällen ist der Verlust des sexuellen Interesses aber auch die Endstrecke, in die länger bestehende Orgasmus-, Erregungs- oder Schmerzprobleme einmünden. Aufgrund des gegenüber der männlichen Sexualität ganzheitlicheren sexuellen Erlebens der Frau ist es gut nachvollziehbar, dass eine Aktivität, die regelmäßig keinen Genuss oder sogar Schmerzen induziert, über kurz oder lang vermieden wird.

Sexuelle Aversion

Der zweite Prägnanztyp der Appetenzsstörungen, die sexuelle Aversion, fühlt sich in der Schilderung der Frau und in der Atmosphäre, die beim Arzt ankommt, in der Regel ganz anders an und ist daher meist gut unterscheidbar. In diesen Fällen geht es nicht um Indifferenz, sondern um eine ausgeprägte Abneigung und Abwehr gegenüber zumeist jeglicher Form von Sexualität inklusive entsprechendem Vermeidungsverhalten. Bereits die Antizipation oder die Initiierung sexueller Kontakte kann zu den oben bereits beschriebenen heftigen psychischen und/oder körperlichen Reaktionen führen, die von der Frau nicht oder kaum kontrolliert werden können. Häufig findet man in diesen Fällen in der Vorgeschichte unangenehme oder traumatische sexuelle Erfahrungen, die - obwohl die Frau dies nicht möchte und die realen partnerschaftlichen Gegebenheiten gut sind - in der intimen Situation reaktiviert werden.

körperbedingte Erregungsstörungen

„Reine“ Erregungsstörungen, also Funktionsstörungen, bei denen sexuelles Interesse und Lust vorhanden sind, aber dennoch keine ausreichende subjektive und/oder genitalphysiologische Erregung aufkommt, sind bei Frauen im Unterschied zu Männern selten. Meist treten sie bei postmenopausalen Frauen im Gepräge einer verminderten Lubrikation auf und können dann durch lokale oder systemische Hormonbehandlungen gut behoben werden. Bei prämenopausalen Frauen tritt die Erregungsproblematik dagegen fast immer im Zusammenhang mit einem geringen Interesse an Sexualität bzw. einer reduzierten Lust auf, die dann auch im Fokus von Diagnostik und Therapie stehen sollte.

Modelle weiblicher Sexualität

Eine Frage, die mit jeder Patientin, die über eine Verminderung ihrer sexuellen Lust klagt, erörtert werden muss, betrifft ihre individuellen Rahmenbedingungen für sexuelles Interesse und sexuellen Genuss, die sowohl die Suche nach den Quellen der Lust als auch nach den wichtigsten „Lustkillern“ beinhaltet. So individuell diese Faktoren im Einzelfall auch sein mögen, so gibt es doch Gemeinsamkeiten, die sich auch in den gängigen Modellen weiblicher Sexualität niedergeschlagen haben.

(siehe dazu auch Artikel: Modelle weiblicher Sexualität)

Klassisches Konzept Das klassische Konzept stammt von H. S. Kaplan (1979), die die Phase des Sexualverlangens dem von Masters und Johnson (1966) beschriebenen sexuellen Reaktionszyklus voranstellte. Sie ging davon aus, dass der Erregungs- und Orgasmusphase eine Phase der sexuellen Motivation vorausgeht, in der das Begehren vorwiegend in Gestalt von sexuellen Phantasien, antizipatorischen Gedanken oder auch Körperempfindungen aufkommt.

Basson-Modell Das gegenwärtig sehr populäre Modell von R. Basson (2001) geht demgegenüber davon aus, dass sexuelles Verlangen auch während der sexuellen Interaktion entstehen kann. Danach ist es - zumindest in längerfristigen Beziehungen - weniger spontanes Begehren, das für die Frau als Motivator wirkt, sondern es sind eher Wünsche nach Nähe, Intimität und Partnerkontakt. Dementsprechend fühlen sich Frauen zu Beginn einer sexuellen Interaktion dann auch sexuell eher „neutral“, was sich in der Begegnung dann durch das Erleben von Erregung in einen Zustand von Verlangen und Lust verändert. Nach R. Basson ist die Appetenz somit häufig weniger aktiv, spontan oder initiativ, sondern eher „rezeptiv“. Voraussetzung für diese „Lustform“ ist eine gelingende, positive Verarbeitung sexueller Reize zu sexueller Erregung, die dann Ausgangspunkt für gesteigertes sexuelles Begehren ist.

Nach Wahrnehmung der sexuellen Reize ist die weiterführende emotionale Verarbeitung der sexuellen Erregung also entscheidend für den Verlauf des Rückkopplungskreises. Wird die sexuelle Erregung eher mit Freude und Selbstbestätigung verarbeitet, kommt es zu einer Entwicklung des sexuellen Begehrens, wird sie jedoch mit Scham oder Schuld beantwortet, kommt es zum Erliegen des Kreislaufes.

Durch das Erleben der sexuellen Erregung steigen die sexuelle Zufriedenheit und die emotionale Intimität des Paares: Im klassischen Modell ist der Appetit die notwendige Voraussetzung für alles Weitergehende. Hingegen könnte man das alternative Modell mit dem Sprichwort „Der Appetit kommt beim Essen“ umschreiben.

Mischformen

Nun weiß jeder Kliniker aus Erfahrung, dass sich diese Modelle nicht gegenseitig ausschließen, sondern beide im richtigen Leben ihren Platz haben, in unterschiedlichem Maße bei verschiedenen Frauen, aber auch bei der einzelnen Frau in Abhängigkeit von Lebensphasen, Rahmenbedingungen, Partnerschaftsfaktoren, vorhandenen Energiereserven etc. Es ist daher sehr ergiebig, mit der Patientin zu besprechen, in welchem Modell sie sich (überwiegend/momentan/am liebsten usw.) wiederfindet.

Vielfältige Faktoren

In einer in diesem Zusammenhang interessanten Studie untersuchten Regan und Berscheid (1996) die geschlechtsspezifischen Überzeugungen bezüglich der Gründe für das Entstehen von sexuellem Verlangen. Die Ergebnisse zeigten, dass mehr Frauen als Männer das erotische Begehren durch externe Reize stimuliert sahen. Beide Geschlechter waren jedoch der Ansicht, dass die Lust der Frauen eher durch interpersonale Faktoren (zum Beispiel das Gefühl zu lieben) und durch räumliche Umgebung (zum Beispiel romantische Atmosphäre) stimuliert wird, wohingegen das männliche Begehren eher durch intrapsychische Faktoren (zum Beispiel das Gefühl von Männlichkeit) und erotische Faktoren (zum Beispiel pornografische Szenen) herbeigeführt wird.

Weiterentwicklung in Beziehung

Darauf, dass (spontane) sexuelle Lust sich in längerfristigen Paarbeziehungen nicht zwangsläufig vermindert, hebt der amerikanische Sexualtherapeut David Schnarch in seinem systemischen und sexualtherapeutischen Ansatz ab. Er geht davon aus, dass sexuelles Begehren durch persönliche Weiterentwicklung in der Partnerschaft nicht nur in der Anfangsphase einer Beziehung, sondern in qualitativ veränderter Form auch in späteren Jahren der Beziehung gelebt werden kann.

Auch andere Studien wie die von Tucker und Aron (1993) weisen daraufhin, dass Phasen von größerer Leidenschaft eine Folge der Beziehungsgestaltung darstellen können. Unter sexuellem Begehren versteht D. Schnarch dementsprechend mehr als nur einen biologischen Trieb, sondern eher ein komplexes Phänomen.

Unbeachtet bleibt häufig, dass sexuelles Begehren

  • einen Teil des zwischenmenschlichen Kommunikationssystems darstellt
  • kulturabhängig ist
  • ein Ausdruck der Sehnsucht nach einer Paarbindung ist und
  • die Intensität und Tiefe der inneren Beteiligung an der sexuellen Begegnung umfasst.

Für D. Schnarch ist es die persönliche Entwicklung (Differenzierung) beider Partner, die den Schlüssel für eine intensive und mutige Erotik bildet.

Häufigkeit

Ein vermindertes Interesse an Sexualität ist gemäß zahlreichen vorliegenden Studien (z.B.: E.O. Laumann et al., 1994; R.C. Rosen et al., 1999; E.O. Laumann et al., 2005) das mit Abstand am häufigsten von Frauen berichtete Sexualproblem. In repräsentativen Stichproben schwanken die Zahlen zwischen 17 Prozent und 35 Prozent, auch in Abhängigkeit von Land und Fragestellung: In der US-amerikanischen Studie von E.O. Laumann et al. (1994) waren es 33 Prozent der Frauen, die über ein reduziertes sexuelles Interesse in den zurückliegenden 12 Monaten berichteten.

Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass aber nur ein bestimmter Prozentsatz dieser Frauen unter diesem Zustand leidet (und ein noch geringerer Prozentsatz Behandlung sucht), wurde festgesetzt, dass nur dann von einer sexuellen Störung gesprochen wird, wenn durch das reduzierte sexuelle Interesse ein individueller und/oder ein interpersoneller Leidensdruck (engl.: personal distress) ausgelöst wird. So ist erklärlich, dass zwar der Anteil der Frauen mit vermindertem sexuellen Interesse mit dem Lebensalter ansteigt, sich aber auch gleichzeitig der Leidensdruck verringert, so dass es im Endeffekt nur zu einem geringen Anstieg der sexuellen Verlangensstörungen mit zunehmendem Alter kommt (A. Graziottin, 2007).

Deutliche Verschiebung

Seit Etablierung der diagnostischen Kategorie der sexuellen Verlangensstörung ist es zu einer bemerkenswerten Verschiebung der Zuordnung weiblicher Sexualprobleme in diese Kategorie gekommen. Durch eine Erhebung seitens der Sexualberatungsstelle der Universität Hamburg (Schmidt, 1996), bei der Daten aus den Jahren 1975/77 und 1992/94 verglichen wurden, zeigte sich, dass innerhalb der angegebenen 20 Jahre die Häufigkeit der Diagnose „Appentenzstörung“ bei den Ratsuchenden von 8 Prozent auf 58 Prozent zugenommen hatte. Andere weibliche sexuelle Störungen wie Erregungs- oder Orgasmusstörungen hingegen hatten von 80 auf 20 Prozent abgenommen.

Buddeberg et al. (2006) kamen im Rahmen einer Studie zur Erfassung psychosozialer Aspekte von sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen, die die Sprechstunde des Universitätsspitals Zürich aufgesucht hatten, auf eine Prävalenz der Appetenzstörungen von 51 Prozent. Bei etwa einem Drittel der Frauen haben sie die Libidostörung im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft oder einer Geburt diagnostiziert. Dabei wurden allerdings nur 43 Frauen untersucht, deren Durchschnittsalter 33,8 Jahre betrug. H. S. Kaplan (1995) berichtete, dass 30 Prozent aller ihrer Patientinnen über einen Mangel an sexueller Motivation oder des Sexualverlangens klagten.

Über die Gründe für diese insgesamt doch deutliche Zunahme diagnostizierter Appetenzstörungen innerhalb der letzten Jahrzehnte kann nur spekuliert werden. Einerseits dürfte es einfach auf den Umstand zurückzuführen sein, dass eine solche Kategorie nun eben existiert und deshalb sexuelle Störungen, die zuvor eher funktional als Erregungs- oder Orgasmusstörung diagnostiziert worden waren, fortan eben als Appetenzstörung eingeordnet werden. Anderseits gibt es durchaus Anzeichen, die auf einen tatsächlichen Anstieg von Appetenzproblemen (bei Frauen wie Männern) hindeuten, wobei als Ursachen eine ganze Reihe gesellschaftlicher Veränderungen diskutiert werden (u.a. die sexuelle Reizüberflutung, die Zunahme von Belastungs- und Stressfaktoren u.a.).

Sicherlich spielen aber auch Veränderungen im Geschlechterverhältnis und Emanzipationsprozesse eine bedeutsame Rolle, die es Frauen heute in ganz anderer Weise erlauben, über ihre Sexualität und damit eben auch über ihre Lust zu bestimmen: Im gelungenen Fall machen es Autonomie und Selbstbestimmung der Frau heute in anderer Weise möglich, ihre persönlichen Rahmenbedingungen für eine befriedigende Sexualität zu erkennen und einzufordern.

Weiterführende Artikel

Dieser Artikel ist Teil einer Serie über weibliche Sexualstörungen. Lesen Sie dazu auch die Artikel:
Arzt-Patientinnen-Gespräch
Modelle weiblicher Sexualität
sexuelle Funktionsstörungen der Frau
Therapie von Orgasmusstörungen
Störungen im sexuellen Verlangen