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Sexuelle Übergriffe auf Kinder

Medium

Plötzlich ist das Thema in aller Munde: Sexuelle Übergriffe an Kindern und Jugendlichen sind seit Wochen Gegenstand intensiver Berichterstattung durch die Medien. Begonnen hat diese „Lawine“ mit der Meldung einzelner Fälle von sexuellen Übergriffen von kirchlichen Mitarbeitern, schon nach kurzer Zeit wurde die Zahl der gemeldeten Fälle immer größer und vor wenigen Wochen kamen schließlich auch Meldungen von Übergriffen an nicht-kirchlichen Privatschulen an das Licht der Öffentlichkeit.

Die Kirche versprach Aufklärung und Hilfe für die Opfer. Wie dies in der Praxis aussehen kann, zeigt die Opferhilfe der Kirche mit ihrer Vorsitzenden, der Katholikin Waltraud Klasnic (ehemalige Landeshauptfrau der Steiermark). Aber das nur am Rande.

Schwieriges Wording

Schon das Wording ist schwierig: Sexueller Kindesmissbrauch – Guido Tartarotti stellt in seiner Kolumne in der Kurier-Freizeit die provokante Frage, ob es denn auch einen sexuellen „Ge“-Brauch von Kindern geben könne. Sexuelle Übergriffe klingt wiederum zu banal, so als wären es eben bloß einzelne Vorfälle.

Sexuelle Gewalt an Kindern ist wohl der richtigste Begriff in diesem Zusammenhang. Denn jede sexuelle Handlung eines Erwachsenen an einem Kind ist ein gewalttätiger Übergriff, ganz egal in welcher Form er passiert.

Kinder sind unschuldige Wesen

Kinder sind per definitionem unschuldige Wesen. Sie wachsen und lernen und entwickeln sich. Wir Erwachsenen sollen sie dabei unterstützen, führen, erklären und Halt geben. In der Psychologie gibt es den Begriff „Urvertrauen“. Dieser Begriff bezeichnet die Haltung des Kindes zu seiner Umwelt. Wenn es in einem sicheren, wertschätzenden, unterstützenden Umfeld aufwächst, so hilft dieses Urvertrauen bei der Entdeckung der Welt, der Entwicklung von Beziehungen zu anderen Menschen, dem eigenen Wachstum.

Wird dieses Urvertrauen zerstört – und nichts eignet sich dafür besser als ein sexueller Übergriff, wirkt sich dies auf das ganze weitere Leben des betroffenen Kindes aus. Ein zerstörtes Urvertrauen ist nicht zu ersetzen. Allerhöchstens können Betroffene, durch therapeutische Aufarbeitung, damit rechnen, überhaupt wieder Vertrauen in die Welt, in die Menschen und in sich selbst zu bekommen.

Das Vertrauen in sich selbst wird zerstört

Denn das ist das perfide an sexueller Gewalt an Kindern: Sie zerstört nicht nur das Vertrauen in die wichtigsten Bezugspersonen (sexuelle Gewalt passiert in über 90 Prozent in den Familien durch nahestehende Bezugspersonen, wie Väter, Stiefväter, Brüder und Onkel bzw. sogenannte „Freunde“ der Familie) – sie zerstört auch das Vertrauen des Kindes in sich selbst.

Kinder können nicht verstehen, warum Erwachsene ihnen sexuelle Gewalt antun. Also suchen sie die Schuld bei sich selbst. Nicht selten wird dieses Phänomen durch den Gewalttäter verstärkt, etwa wenn er sagt: Wenn du jemandem erzählst, was hier geschieht, werde ich sterben/wirst du ins Heim kommen/wird uns deine Mutter verlassen.“

Und weil dieses Geschehen so ungeheuer monströs und für das Kind unmöglich zu fassen ist, richtet sexuelle Gewalt an Kindern solch riesigen Schaden an. Sexuelle Gewalt an Kindern zerstört diese Kinder nachhaltig. Nur langwierige therapeutische Aufarbeitung kann vielleicht dazu führen, mit dem Geschehenen abzuschließen und einen Neuanfang zu wagen.

Sexuelle Gewalt ist häufig...

Laut Statistik Austria leben in Österreich rund 2,4 Millionen Kinder zwischen Null und 18 Jahren. Studien zufolge werden im Laufe ihrer Kindheit und Jugend jedes 4. Mädchen und jeder 7. Bub Opfer sexueller Gewalt. Eine einfache Rechnung macht die Größenordnung deutlich: In Österreich wären das rund 300.000 Mädchen und rund 172.000 Burschen, die – meist von Personen aus ihrem näheren und nächsten Umfeld – sexuell missbraucht werden. Die Täter – auch das ist durch Studien hinreichend belegt – sind zu 98 Prozent Männer – egal ob es sich beim missbrauchten Opfer um ein Mädchen oder einen Burschen handelt.

... und wird ebenso häufig totgeschwiegen

Sexuelle Gewalt an Kindern hat nur am Rande mit (fehlgeleiteter) Sexualität zu tun. Viel mehr geht es dabei um die Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses. Die Täter sind nicht selten Männer, die die Auseinandersetzung mit erwachsenen PartnerInnen fürchten. Und es sind nicht jene Fälle, die an die Öffentlichkeit kommen, wie der Fall F. im Jahr 2009. Es sind die täglichen Übergriffe, die in vielen Familien an der Tagesordnung sind und die niemand sehen möchte. Denn immer noch wird sexuelle Gewalt an Kindern „totgeschwiegen“.

Wenn Fälle dennoch ans Licht kommen, werden die Opfer nicht selten noch einmal zu Opfern gemacht, weil sie mit dem Thema an die Öffentlichkeit gegangen sind. Sicher, in den vergangenen zehn Jahren hat sich viel verändert. Es wurden Opferschutzeinrichtungen geschaffen – in Österreich setzt sich etwa „Die Möwe“ für Opfer sexueller Gewalt ein. Ein Tabuthema ist die sexuelle Gewalt an Kindern dennoch geblieben – ganz nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Nicht wegschauen!

Sexuelle Gewalt an Kindern ist aber Realität. Sie passiert täglich, in unserem unmittelbaren Umfeld. Deshalb gilt: Nicht wegschauen, hinhören, aufpassen – und im Bedarfsfall: Handeln. Menschen, die in ihrem Umfeld sexuelle Gewalt an Kindern vermuten, sollten allerdings keine „Schnellschüsse“ setzen, denn das kann dem betroffenen Kind noch mehr schaden. Vielmehr sollten sie sich mit Opferschutzeinrichtungen in Verbindung setzen, sich Hilfe holen und gemeinsam das weitere Vorgehen planen.

Kinder können sich nicht selbst aus einer solchen Situation befreien. Sie brauchen Erwachsene mit offenen Augen und Ohren, die ihnen zu Hilfe eilen. Denn ohne Hilfe werden Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind, ihr ganzes Leben lang gegen dieses Trauma kämpfen müssen.

Autor

Sabine Fisch (April 2010)