Die Lebensphasen einer Frau
Sexualität ist immer auch durch die Vorerfahrungen, die eine Frau gemacht hat, beeinflusst. Vom Körper her verfügen wir über ein angeborenes Potenzial, Sexualität zu leben. Welche Sexualität wir jedoch tatsächlich ausleben können, hängt davon ab, ob wir mehr fördernde, positive oder eher hemmende, negative Erlebnisse in unserer (sexuellen) Biografie abspeichern konnten, und auch, ob wir die Fertigkeit erworben haben, negative Faktoren so zu verarbeiten, dass diese unsere Sexualität heute bereichern.
In meiner Arbeit als Sexualmedizinerin habe ich bei jeder Frau aufs Neue das Gefühl, in einem unendlich dicken Buch blättern zu dürfen, in dem beeindruckende Geschichten geschrieben stehen. Detailliert findet man darin alle Begleitumstände und Emotionen aufgeschlüsselt, vom ersten Atemzug auf der Welt bis zur Gegenwart. Emotionen, die prägend für die Sexualität waren und noch immer sind.
Diese Geschichten erzählen über ihre
- Kindheit,
- die Beziehung zu den Eltern,
- deren Verhältnis zueinander,
- über eine befreiende oder bedrückende Grundstimmung daheim.
- Ob sie sich geborgen fühlten oder ungeschützt und auf sich selbst gestellt waren.
- Wofür sie gelobt oder getadelt wurden.
- Ob sie mit Problemen willkommen waren oder früh lernen mussten, alles mit sich selbst auszumachen.
- Ob die Mutter ihr Vorbild und der Vater stolz auf sie war.
- Ob die Bezugspersonen ihr Bedürfnis nach Abgrenzung respektiert haben oder nicht und welche Konsequenzen das hatte.
All diese Erinnerungen und Erfahrungen mit den damit einhergehenden Gefühlen sind abgespeichert und prägen ihr Selbstwertgefühl.
Gehen wir die wichtigen Kapitel der sexuellen Biografie einer Frau durch, um zu sehen, welche prägenden Geschichten abgespeichert wurden und ob diese förderlich oder behindernd für die Sexualität sind.
Jede Phase im Leben einer Frau geht mit körperlichen Veränderungen einher und bringt damit psychische und soziale Entwicklungsaufgaben mit sich.
Die Kindheit
Ein neugeborenes Baby kennt die geschützte Welt der Gebärmutter, in der es geborgen war und genährt wurde. Sein Leben beginnt mit dem Gefühl, eins zu sein mit seiner Mutter. Es kennt die Welt noch nicht und beginnt neue Körperempfindungen wie Hunger, Kälte, Wärme, angenehme und unangenehme Berührungen kennenzulernen.
Intensiv erleben Babys ihre Sinne. Ohne Kontakt fühlen sie sich alleine, denn sie sind ohne Zeitgefühl. Sie geben Zeichen der Zufriedenheit und des Frustes wieder und erleben, ob ihre Bezugspersonen darauf eingehen oder nicht.
Die Kleinen sind neugierig, lernfreudig und wissbegierig. Sie entdecken sich täglich mehr. Sie lieben ihren ganzen Körper, auch zwischen den Beinen. Sie kennen noch keine Grenzen und Normen und stellen fest, dass die Erwachsenen welche haben und diese auch für sie gelten. Sie erfahren es mit viel Geduld oder gewaltvoll.
Sie gewinnen Kontrolle, werden »sauber« und erfahren zu viel oder zu wenig Nähe. Sie lernen sich darauf einzustellen und erleben sich als Teil der Familie.
Mit dem Kindergarten erweitert sich ihre Umwelt, die andern Kinder prägen das Leben mit. Sie entdecken einander und erkennen, dass es Mädchen und Buben gibt. Sie sind neugierig und erkunden sich spielerisch. Sie merken, dass manche ihrer Spiele die Erwachsenen irritieren.
Zunehmend wird von ihnen erwartet, sich den Rollenvorstellungen, Normen und Grenzen zu fügen, und sie erleben, was geschieht, wenn sie sich nicht daran halten. Sie müssen lernen damit umzugehen, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht immer mit jenen ihrer Bezugspersonen übereinstimmen.
Fördernde Faktoren
Fördernd sind in dieser Phase von der frühesten Kindheit an stabile Bezugspersonen, die einfühlsam auf die Bedürfnisse und Signale des Neugeborenen eingehen:
- Personen, die eine Atmosphäre der Wärme und Geborgenheit erzeugen,
- die Wachstumsschritte des Kindes liebevoll anerkennen,
- aber auch schützende Grenzen aufstellen,
- die respektvoll mit den Grenzen des Kindes in Bezug auf seinen Körper
- und mit seinem Bedürfnis nach Nähe und Distanz umgehen.
- Die ihm helfen, sich mit und in seinem Körper wohl zu fühlen,
- und die die Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten der Mädchen- und Bubenrollen zulassen.
Hemmende Faktoren
In dieser Phase der (sexuellen) Entwicklung wirken sich Bezugspersonen negativ aus,
- die nicht fähig sind, auf die Signale und Bedürfnisse des Kindes passend einzugehen.
- Noch schlimmer sind die Konsequenzen für die Weiterentwicklung, wenn Vernachlässigung und Gewalt dominieren
- und starre Verbots- und Bestrafungsmaßnahmen den Alltag prägen.
Die Pubertät
Diese Entwicklungsphase erfordert körperlich, psychisch und sozial eine enorme Umstellungsarbeit. Es kommt zu einer hormonellen »Überschwemmung« des Gehirns und des ganzen Körpers mit Sexualhormonen, die das bisherige Körperempfinden und Rollenverhalten sowie auch die körperlichen Bedürfnisse komplett verändern.
Mädchen haben in der Pubertät damit klarzukommen, dass die Umgebung sie anders wahrnimmt und von ihnen auch ein anderes Verhalten erwartet. Sie müssen akzeptieren, dass aus ihren kindlichen Körpern weibliche werden, mit all den Konsequenzen. Sie suchen Halt bei Freundinnen, sind aber auch neugierig auf die Freunde. Sie beschäftigen sich intensiver mit ihrem Körper und lernen sich zu lieben. Sie erleben erste sinnliche und sexuelle Erfahrungen mit dem anderen und dem eigenen Geschlecht und sie loten aus, was von ihrer Umgebung toleriert wird und was nicht - und wie es ihnen damit geht. Sie sind schwärmerisch und bereiten sich innerlich auf die ersten sexuellen Erfahrungen vor.
Sie lernen damit umzugehen, dass ihre sexuellen Bedürfnisse eventuell von den erwarteten abweichen. Sie lösen sich langsam von ihren Eltern und ihrer Familie und konzentrieren sich immer mehr auf ihren eigenen Freundeskreis und ihre Liebesbeziehung. Sie beenden Beziehungen oder werden verlassen, lernen mit Eifersucht und Schmerz umzugehen. Sie beginnen im Schul-, Ausbildungs- oder Berufssystem ihren Platz zu finden.
Fördernde Faktoren
- Freiräume zu haben, um in Sicherheit neue Erfahrungen in Bezug auf den eigenen Körper zu machen, wirken sich in dieser Phase der (sexuellen) Entwicklung positiv aus,
- ebenso wie das Sammeln emotionaler und körperlicher Erfahrungen in Beziehungen.
- Stärkend wirkt ein körper- und sexualfreundliches sowie
- soziales Umfeld, das sich diesen inneren und äußeren Veränderungen wohlwollend stellt.
Hemmende Faktoren
- Grenzverletzungen und Gewalterfahrungen,
- aber auch eine sexualfeindliche Haltung im familiären Umfeld,
- etwa starre religiös-moralische Wertvorstellungen, können sich hemmend auswirken.
Das frühe Erwachsenenalter
In dieser Phase geht es um die Schaffung einer beruflichen Existenz und einer dauerhaften Beziehung. Es ist auch die Zeit des Verlassenwerdens, der Eifersucht, des Rückzugs und der neuerlichen Versuche, eine feste Bindung einzugehen.
Mit der gewonnenen Selbstsicherheit beginnen die jungen Frauen einen lebbaren Weg zu finden und wichtige Entscheidungen zu treffen:
- wie zum Beispiel gleichgeschlechtliche oder heterosexuelle Beziehungen zu leben,
- eine Familie zu gründen, schwanger zu werden,
- sich von der Zweisamkeit zu verabschieden, ein Kind aufzuziehen und sich auf die Bedürfnisse eines Neugeborenen einzustellen.
Diese Zeit fordert Realitätssinn und das Anpassen der Sexualität an die neuen Anforderungen. Es verlangt aber auch das Zurückfinden in die Paarbeziehung und zu den ganz persönlichen, emotionalen und sexuellen Bedürfnissen.
Fördernde Faktoren
- Eine gelungene Beziehungsgestaltung - mit flexiblen Rollenmodellen,
- der Fähigkeit, auf den anderen einzugehen,
- einander Bedürfnisse oder Irritationen mitzuteilen,
- kreative Lösungen zu finden - wirkt sich positiv auf das sexuelle Leben aus.
- Ebenso wichtig ist es, sich selbst mit den eigenen Grenzen, emotionalen und sexuellen Bedürfnissen nicht aus den Augen zu verlieren.
Hemmende Faktoren
- Sexuelle Ausbeutung,
- Unterdrückung,
- starres Rollenverhalten,
- Vernachlässigung der eigenen Person und
- das Unvermögen, die eigenen Bedürfnisse mitzuteilen, behindern die persönliche und sexuelle Entwicklung.
Das mittlere Erwachsenenalter
Das Älterwerden ist eine nicht weniger anspruchsvolle Zeit. Es verlangt durch die gesellschaftliche Vorgabe der Monogamie und der lebenslangen Treue einen emotionalen Spagat, den nicht jede Frau schafft.
Daneben existieren illusorische Bilder von ewiger Liebe und Verliebtheit, ewig prickelndem Sex und dem Traum der ewigen Jugend: Fast nichts von dem hat etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Monogamie wird kaum gelebt, Treue wird oft gebrochen.
Das macht Angst. Angst vor dem Älterwerden, Angst, nicht mehr zu genügen, als Sexualpartnerin nicht mehr attraktiv zu sein. Es kann eifersüchtig machen. Es gibt aber auch die Chance, zu erkennen, dass eine ganz andere Form des sich Erlebens und der Sexualität entstehen kann.
Diese ist anders als der »Kick-Sex« des Jugendalters. Es ist eine reifere, tiefe, sinnliche Sexualität, die geprägt ist durch die Erfahrungen, die persönlichen Bedürfnisse und die Möglichkeiten, diese mit dem Partner auszuleben.
Die Kinder sind möglicherweise bereits ausgezogen und führen ihr eigenes Leben. Manchmal brauchen sie noch Unterstützung, vielleicht auch zeitgleich mit alternden Eltern.
In diese Zeit fällt die Menopause.
- Die Eierstöcke stellen ihre Östrogen- und Gestagen-Produktion ein und der Körper muss sich an die Veränderungen gewöhnen.
- Aufgrund des Östrogenmangels brauchen die genitalen Blutgefäße länger, bis sie mit Blut gefüllt sind, und es dauert länger, bis die Scheide feucht wird.
- Eventuell baut sich die Scheidenschleimhaut ab, was beim Geschlechtsverkehr schmerzen kann.
- Schlafstörungen,
- Hitzewallungen und auch
- emotionale Befindlichkeiten können den Frauen sehr zusetzen.
Beide Partner machen körperliche, emotionale und sexuelle Veränderungen durch, die einen ehrlichen Austausch über ihre Bedürfnisse erforderlich machen.
Fördernde Faktoren
- Sich an Veränderungen so anpassen zu können, dass sie guttun und
- Konflikte konstruktiv auszutragen, ist in diesem Lebensabschnitt sehr erleichternd.
- Wichtig ist auch die Fähigkeit, den eigenen Anteil an einem Konflikt zu sehen und mit dem Partner darüber zu reden.
Hemmende Faktoren
- Wie in allen Phasen sind Kränkungen,
- Demütigungen
- und das Gefühl, vom Partner auf Gedeih und Verderb abhängig zu sein, hemmend.
- Auch hier können starre Rollenklischees von Frausein und Mannsein sowie
- übertriebene Moralvorstellungen die Entwicklung erschweren.
Das höhere Erwachsenenalter
Das Thema, dem wir uns in diesem Lebensabschnitt stellen müssen, ist der Umgang mit dem Altern, hier vor allem das Akzeptieren des zunehmenden Abbaus der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Wir werden nicht umhin kommen, uns auch mit dem Thema Sexualität neu zu konfrontieren, entweder weil es uns irritiert, dass die gesellschaftlichen Normen nicht unserer gelebten Sexualität entsprechen oder weil wir die Sexualität anders wollen als unser
Partner. Es ist vielleicht auch die Zeit des Alleinlebens, weil der Partner schon gestorben ist.
Vielleicht können wir schlecht damit umgehen, dass unser Körper trotzdem das Bedürfnis nach Sex hat. Die Gesellschaft tabuisiert sinnlich-sexuelle Bedürfnisse im Alter, so kann es vorkommen, dass uns das Bedürfnis nach Selbstbefriedigung mit Scham erfüllt. Dabei ist dies oft die einzige Art der Sexualität, die leicht möglich ist - die »Selbstliebe«.
Es ist oft auch die Zeit, sich neue Ziele zu stecken, sich dem persönlichen Sinn des Lebens in positiver Weise zu nähern und die jüngere Generation zu unterstützen.
Fördernde Faktoren
- Förderlich sind regelmäßige körperliche und geistige Aktivitäten, damit die Lernfähigkeit und die Neugierde aufs Leben erhalten bleiben,
- sowie der Mut, sich neuen Situationen zu stellen.
Hemmende Faktoren
- Krankheit,
- Isolation und
- Rückzug aus den Herausforderungen des Lebens wirken wohl immer hinderlich.
- Hemmend ist aber auch, gesellschaftliche Vorgaben zu akzeptieren, die uns einreden wollen, wir seien in diesem Abschnitt keine sexuellen Wesen mehr.
Weiterführender Artikel
Psychosexuelle Grundfähigkeiten bei der Frau
Quellenangabe
Dieser Text ist, mit freundlicher Genehmigung des Verlages, dem Buch Weiblich, sinnlich, lustvoll von Dr. Elia Bragagna, 2010 erschienen im Ueberreuter Verlag, entnommen.