Überleben, aber „entmannt“?
Die Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna berichtet in der „Sprechstunde“ von Fällen aus ihrer täglichen Praxis. Alle persönlichen Angaben der Patienten und Patientinnen wurden geändert, die Geschichten, Probleme und Lösungsfindungen entsprechen jedoch der Realität.
Peter F. (63) kommt zu mir in die Praxis und sagt gleicht, dass er mich nur braucht, um sich bei einem Problem zurechtzufinden. Es ginge ihm nicht um Sex.
Vorgeschichte
Seine leidvolle Geschichte begann vor drei Jahren mit der Diagnose „Prostatakrebs“. Zunächst stand er regelrecht unter Schock und fiel in ein tiefes Loch. Den Empfehlungen seines Urologen folgend, ließ er sich die Prostata entfernen. Schon beim Erzählen wird klar, dass ihm die Erinnerungen an die damalige Zeit noch immer sehr nahe gehen. Er hatte damals keine Vorstellung davon, was es in der Realität bedeutet, inkontinent und impotent zu sein. Das wurde ihm dann aber sehr deutlich klar: Er musste wie ein Kind Vorlagen tragen, um nicht Urin in die Hose zu verlieren. An Sex mochte er damals gar nicht mehr denken, er schämte sich einfach nur unendlich.
Letztlich meisterte er sein Schicksal aber doch: mit Beckenbodenübungen gelang es ihm, seine Kontinenz wieder zu erlangen und dünne Vorlagen nur noch zur eigenen Sicherheit verwenden zu müssen.
Doch dann begannen die noch schlimmeren Probleme. Bei einer der üblichen Nachuntersuchungen wurden Metastasen in den Lymphknoten gefunden, was Bestrahlungen nach sich zog. In dieser sehr beschwerlichen Zeit tat er alles, um den Tumor zu besiegen. Leider war dem Tumor mit den Bestrahlungen allein nicht beizukommen. Da das Wachstum mancher Tumorzellen besonders durch Testosteron angeregt wird, das im Hoden gebildet wird, wurde Herrn F. geraten, seine Hoden entfernen zu lassen. Dies sollte die Testosteronproduktion in seinem Körper unterbinden und das Tumorwachstum verlangsamen.
Problem
Jetzt erst kam das Gespräch an den Punkt, den er nicht mit seinen Urologen besprechen wollte, obwohl er offensichtlich ein gutes Verhältnis zu ihm hatte. „Eigentlich“, so ging es Herrn F. immer wieder durch den Kopf, „sei diese Therapie eine Kastration“. Darüber hatte er schon viel im Internet gelesen. Man werde danach dicker, müder, antriebsloser und emotional labiler. Die Muskeln würden schwächer und die Knochendichte würde abnehmen. Sein geringstes Problem war eine zunehmende sexuelle Lustlosigkeit, da er mit seiner Frau kaum noch sexuellen Kontakt hatte. Eigentlich ging es ihm um die Endgültigkeit der durch die Operation eintretenden Entmannung. Diese Endgültigkeit setze ihm unglaublich zu.
Nach all den Bemühungen die Krankheit zu besiegen sollte er am Ende nur durch eine Entmannung überleben können? Natürlich erschreckten ihn alle möglichen Symptome und Nebenwirkungen, aber die Entmannung bedeutete für ihn, sein letztes bisschen Würde zu verlieren.
Lösungsansätze
Da Herrn F. die Endgültigkeit einer Operation so sehr zusetzte, riet ich ihm zu einem neuen Medikament, das fast gleichwertig schnell und gut die Hormonproduktion stoppen kann.
Falls der chemisch erzeugte Hormonmangel zu starke Nebenwirkungen zeigen sollte, kann man in Absprache mit dem Urologen eine vorübergehende Unterbrechung der Therapie in Erwägung ziehen. Das kann helfen, die Angst vor der Endgültigkeit zu nehmen. Gegen die Folgewirkungen wie Gewichtszunahme und Antriebslosigkeit braucht es anfänglich etwas Selbstdisziplin, um den Lebensstil zu ändern, sich mehr zu bewegen, Sport zu machen und gesünder zu essen. Alle anderen unerwünschten Wirkungen können in Absprache mit dem Urologen individuell angegangen werde.
Auf dem Gebiet der Sexualität hat sich gezeigt, dass unabhängig vom Lusthormon Testosteron auch das Bindungs- und Wohlfühlhormon Oxytocin eine wichtige Rolle spielt, dessen Pegel bei jedem Körperkontakt ansteigt und ein verbindendes Glücks- und Liebesgefühl zwischen den Partnern erzeugt. Sollten sich daraus sexuelle Bedürfnisse ergeben, dann gibt es zum Glück eine Reihe von Hilfsmitteln, die der Urologe gerne verschreiben wird.
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