Selbstbefriedigung: Die Kirche und das schlechte Gewissen
Ursprünglich war das Christentum keinesfalls asketisch, leibfeindlich und eros-skeptisch, denn die wesentlichen Wurzeln des Christentums liegen in der lebensbejahenden hebräischen Bibel. Erst der niedergehende Hellenismus brachte asketische Tendenzen in das Christentum und erstickte so die blühende Liebeskultur der Antike.
Eros
Der Gott Eros hatte ursprünglich eine andere Funktion als die eines Feindbildes der reinen christlichen Lehre. In der Antike galt der Sohn der Liebesgöttin Aphrodite noch als Leitfigur der Tugend und der Menschlichkeit. Nach und nach aber wurden Eros und Agape auseinanderdividiert und so ihrer Bedeutungsvielfalt und ursprünglichen Kraft beraubt.
Fatale Trennung von Glauben und Leben
Eine rigorose Trennung von
- Glauben und Leben,
- von Religion und Politik,
- von „privat“ und „öffentlich“
führte zu einer „Doppelmoral“, die den ganzen Menschen und seine Grundbedürfnisse aus dem Blick verlieren musste. In der Folge unterscheidet man seither streng
- zwischen einer sakralen und einer profanen Welt,
- zwischen heilig-religiösen und sündig-weltlichen Bezirken,
- letztlich zwischen Himmel und Hölle.
Fragen der Sexualität sind in diesen Kategorien allerdings schwer bis überhaupt nicht zu verstehen.
„Nichts ist unrein“
Erfrischend wirkt da ein Wort des Paulus, das er an die Römer schreibt: „Auf Jesus, unseren Herrn, gründet sich meine feste Überzeugung, dass an sich nichts unrein ist; unrein ist es nur für den, der es als unrein betrachtet.“ (Röm 14,14)
Erfahrungen sammeln
Eine solche aus heiterer Weisheit kommende Betrachtungsweise stünde den christlichen Kirchen auch in Bezug auf die Selbstbefriedigung gut an. In „engagierter Gelassenheit“ muss jeder Mensch selbst mit seiner Körperlichkeit und Sexualität Erfahrungen sammeln.
Regeln und Verbote und ein daraus resultierendes schlechtes Gewissen sind keine brauchbare Hilfe dazu, dass diese Erfahrungen nicht in der „Ichverhaftung“ ( lat. „ipsatio“ als Bezeichnung für die Selbstbefriedigung) stecken bleiben.
Gerade im Bereich der Sexualität lernen wir den Umgang mit uns und den Mitmenschen nicht in erster Linie durch Verbote, sondern wohl eher durch Ermutigung zur persönlichen Erfahrung, durch „Zumutungen“ im besten Sinne des Wortes.
Religion ist "erotisch"
Dabei könnte sichtbar werden, dass Religion und Erotik nicht strikt voneinander zu trennen sind. Die beiden bilden keinen grundsätzlichen Unterschied, sondern fördern in ihrer ganzen Fülle menschlicher Möglichkeiten das natürliche Spannungsgefüge des Lebendigen.
So könnte auch Religion selbst als Ganzes geradezu „erotisch“ erscheinen,
- eine Religion, deren eigene Ausdrucksformen sinnlich, also mit allen Sinnen wahrzunehmen sind,
- eine Religion, die an persönlichen Erfahrungen der Menschen interessiert bleibt,
- und sich einer Kultur der Zärtlichkeit nicht verweigert.
Über den Autor
Der Theologe Dr. Arnold Mettnitzer ist ehemaliger Priester und heute als Psychotherapeut tätig.