Das Konzept Sexocorporel wurde von Prof. Jean-Yves Desjardins am Département de séxologie de l’Université du Québec in Montréal, der weltweit einzigen sexologischen Fakultät, entwickelt. Auf der Basis von klinischen Beobachtungen und wissenschaftlichen Untersuchungen erarbeitete er seit dem Gründungsjahr 1968 bis 1988 ein Modell sexueller Entwicklung und Funktionalität, welches er seither in Zusammenarbeit mit Sexologinnen und Sexologen entsprechend neuer sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse erweiterte.
Differenzierte Diagnostik
Das für die Praxis entwickelte Modell erlaubt eine Evaluation aller sexologisch relevanter Komponenten und fokussiert die körperlich-genitale Ebene im direkten kausalen Zusammenhang eines sexuellen Problems. Das seit vielen Jahren bewährte und, entsprechend neuen sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen, immer wieder weiter entwickelte Beratungskonzept ermöglicht mittels genauer Analyse eine sehr differenzierte Diagnostik und Behandlung.
Die sexuelle Realität mit einbeziehen
Damit stellt dieser Ansatz eine zusätzliche Perspektive zur Verfügung, indem neben den gängigen sexualtherapeutischen Schulen, die intrapsychische Konflikte oder die Beziehungsebene in den Mittelpunkt stellen, die explizite sexuelle Realität miteinbezogen wird. Sexocorporel bietet eine fundierte Theorie verbunden mit konkretem sexologischen „Handwerkszeug“. Die verschiedenen Komponenten der Sexualität (physiologische, persönliche, kognitive und Beziehungskomponenten), die im Ausüben und Erleben der Sexualität zusammenspielen, werden über persönliche und soziale Lernprozesse entwickelt. Im therapeutischen Konzept des Sexocorporel werden die bereits erworbenen Fähigkeiten und die Grenzen aller Komponenten evaluiert. Die sexuelle Erregungsfunktion spielt dabei eine zentrale Rolle. Darauf aufbauend werden weiterführende Lernschritte angeregt und begleitet.
Sexualentwicklung
Sexocorporel unterscheidet und untersucht verschiedene Komponenten, die im Ausüben und Erleben der Sexualität zusammenspielen. Während die biologische Geschlechtsidentität (sexual identity, identité sexuelle) mit der Zeugung fixiert wird, sind alle an der Sexualität beteiligten Komponenten Teil der menschlichen Sexualentwicklung und damit veränderbar und erlernbar - sie entwickeln sich über persönliche und soziale Lernprozesse.
Lebenslange Wellenbewegung
Der Sexualisierungsprozess beginnt mit dem bereits vorgeburtlich angelegten Erregungsreflex, der sich im Verlauf der Entwicklung mit immer mehr motorischen, sensorischen, symbolischen, kognitiven und kommunikativen Funktionen verbindet. Damit finden genitale Aneignungen statt, die sich über Wiederholungen verfestigen und die Lustfunktion ermöglichen. Wie jede Entwicklung verläuft auch die Sexualentwicklung wellenförmig und lebenslang über neue Entdeckungen und über das Festigen von bereits Gelerntem durch Wiederholen oder Zurückgreifen auf frühere Entwicklungsstufen. Körperliche Veränderungen in den verschiedenen Lebensphasen - etwa hormonelle Veränderungen, die die Pubertät einleiten - sowie Krankheiten und Behinderungen erfordern neue sexuelle Lernprozesse.
Untrennbare Einheit
Sexocorporel betrachtet den Mensch als körperlich und seelisch untrennbare Einheit, unterscheidet jedoch aus wissenschaftlichen Gründen den expliziten Körper - den sichtbaren, bewegbaren Körper, die Sinnesempfindungen etc. - und den impliziten Körper - die Wahrnehmungen, Emotionen, Gedanken, Fantasien etc.
Die Unterteilung in unterschiedliche Komponenten dient daher lediglich dem Verständnis und ermöglicht differenzierte Arbeitshypothesen:
Physiologische Komponenten
- Die Erregungsfunktion
- Die Erregungsmodi
- archaisch
- mechanisch
- archaisch-mechanisch
- ondulierend
- wellenförmig
- Sinnesempfindungen
- Biologische Basis: Gene, Hormone, Blutgefässe, Nervensystem usw.
Sexodynamische Komponenten
- Sexuelle Lustfunktion
- Gefühl der Zugehörigkeit zum eigenen biologischen Geschlecht
- Sexuelle Selbstsicherheit
- Sexuelles Begehren
- Sexuelle und emotionale Anziehungskodes
- Sexuelle Fantasien und Träume
- Emotionale Intensität
Kognitive Komponenten
- Kenntnisse, Werte, Normen, Ideologien, Denkweisen, Idealisierungen, Mystifizierungen usw.
Beziehungskomponenten
- Liebesgefühl, Bindungsfähigkeit
- Fähigkeit, zu verführen
- Kommunikation
- Erotische Kompetenzen
Zusammenfassung
Die einzelnen Komponenten werden im sexualtherapeutischen Kontext nicht isoliert, sondern immer in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenspiel betrachtet. In diesem Kontext erscheint das Konzept Sexocorporel als integrativer sexologischer Ansatz, der unterschiedliche sexualtherapeutische Zugänge und Sichtweisen in einem Gesamtkonzept zusammenführt.
Für Klienten und Klientinnen, die mit Fragen zu ihrer Sexualität in die Beratung kommen, ermöglicht dieser Ansatz die vorhandenen Fähigkeiten zu erkennen und diese zu erweitern.