Sexuelle Funktionsstörungen: Vom Tiermodell zum Menschen

3 minuten Lesezeit . Written by Prof. Dr. Dipl-Psych. Uwe Hartmann

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Sexuelle Funktionsstörungen: Vom Tiermodell zum Menschen

Lange Zeit waren Untersuchungen des menschlichen Zentralnervensystems auf das Vorhandensein und die Entstehung sexueller Störungen nur in einem eng begrenzten Rahmen möglich. Denn, um das Gehirn und das Nervensystem untersuchen zu können, sind meist sehr invasive Eingriffe notwendig. Diese an lebenden Menschen durch zu führen, vor allem dann, wenn keinerlei Kenntnisse über die Folgen vorhanden sind, wäre unethisch - und ist in der Wissenschaft ohnehin verpönt.

Deswegen hat man in den vergangenen Jahren versucht, an Tiermodellen eine Reihe von Untersuchungen vorzunehmen, die es erlauben, Rückschlüsse auf bestimmte Funktionen des Gehirns und des Nervensystems auf den Menschen, zu ziehen. Das ist - wie immer jemand zu Tierversuchen stehen mag - auch eine logische Vorgehensweise, denn die Natur gilt als konservativ und sparsam - sie setzt funktionierende Systeme in vielen Bereichen um, und „erfindet“ nicht regelmäßig alles neu.

Um aber sinnvolle und reproduzierbare Aussagen vom Tiermodell auf den Menschen zu treffen, ist ein umfassendes Wissen um das menschliche und tierische Sexualverhalten nötig. Ist dies vorhanden, so kann durchaus von Tiermodellen auf menschliche Funktionsweisen geschlossen werden, wenn auch mit Einschränkungen.

Das Reiz-Reaktions-Schema

Das heute vorhandene wissenschaftliche Wissen lässt erkennen, dass für Tier und Mensch sexuelles Verhalten das Ergebnis einer ganzen Reihe von Verhaltenselementen ist. Damit es überhaupt zu Geschlechtsverkehr kommen kann, muss auf eine Vielzahl interner und externer Reize adäquat reagiert werden.

Sehr häufig werden Ratten untersucht, um neue Erkenntnisse über das Sexualverhalten des Menschen und dessen biologische Grundlagen zu gewinnen. Denn Ratten ähneln Menschen in vielerlei Hinsicht:

• Das neuroendokrine System der Ratte und des Menschen sind sehr ähnlich.
• Die Ratte verfügt über ein ausgeprägtes Sozialverhalten und kennt sehr viele unterschiedliche Verhaltensweisen, um sich adäquat an viele verschiedene Situationen anpassen zu können.
• Das Sexualverhalten der Ratte ist, ebenso wie das des Menschen, opportunistisch.

Allerdings besteht auch eine Reihe von Unterschieden zwischen Ratte und Mensch, was das Verhalten angeht:

• Das menschliche Sexualverhalten ist erheblich unterschiedlicher, als jenes der Ratte.
• Der Anteil gelernten Verhaltens ist beim Menschen größer.
• Der Geschlechtsdimorphismus ist beim Menschen weniger ausgeprägt.
• Das genitale bzw. kopulatorische Sexualverhalten ist beim Menschen kontinuierlicher.
• Im weiblichen Sexualverhalten gibt es keine Entsprechung zur Lordosereaktion der Ratte.

Am deutlichsten unterscheiden sich Mensch und Ratte jedoch in der Funktion der Sexualität. Hat diese bei der Ratte zum größten Teil die Funktion Fortpflanzung, umfasst die menschliche Sexualität neben der reproduktiven Funktion auch die bindungs- und beziehungsorientierte Funktion. Darüber hinaus bedeutet Sexualität für den Menschen aber auch eine wesentliche Rolle, sowohl was das innere Erleben als auch für die Identitätsentwicklung und die psychische Balance.

Hinzu kommt die beim Menschen einzigartige Lustdimension der Sexualität, die nicht nur die Motivation zum Sex steuert sondern auch das positive Erleben der Sexualität und der Befriedigung. Nicht zuletzt wird die menschliche Sexualität von einer Reihe von soziokulturellen Faktoren beeinflusst. Was der Mensch als „sexuellen Reiz“ wahrnimmt, wird in hohem Maße von seiner Umwelt beeinflusst und bestimmt.

Beim Menschen haben daher biologische, speziell hormonelle Faktoren zwar einen fundamentalen Einfluss auf das sexuelle Erleben. Nichts desto trotz nehmen diese Faktoren - gemessen an der Variationsbreite menschlicher Sexualität - einen geringeren Raum ein.

„Cultural brain“ und „jurassic brain“

Um die menschliche Sexualität zu verstehen, reicht es nicht aus, nur die triebgesteuerten Funktionen oder nur die durch Kultur und Erfahrung gesteuerten Faktoren zu betrachten. Der Neurobiologe Dr. Donald Pfaff von der Rockefeller Universität in New York prägte für dieses Zusammenspiel die Begriffe „cultural brain“ (also etwa „kulturelles Gehirn“) und „jurassic brain“ (etwa „Dinosaurierhirn“). Beide „Gehirne“ werden für ein umfassendes Wissen über die menschliche Sexualität unbedingt benötigt.

Wird dies berücksichtig, so entsteht ein beeindruckendes, elegantes Zusammenspiel, das von der molekularen über die neurophysiologische bis zur Verhaltensebene reicht. In der menschlichen Sexualität greifen genitale, spinale und supraspinale Strukturen ebenso ineinander, wie die drei Funktionssysteme Sensorik, Motorik und Motivation. Die sexuellen Reaktionen selbst werden von einem komplexen Zusammenspiel von Hormonen, Neuropeptiden und klassischen Neurotransmittern bestimmt.

Erregungs- und Hemmsystem

Und dieses elegante Zusammenspiel zeigt auch deutlich die Schwierigkeiten in der Erforschung der menschlichen Sexualität und der Störungen der Sexualität auf - gerade weil das ganze System eine ungeheure Bandbreite von Auslösern, Funktionen, Mit- und Gegenspielern aufweist, fällt eine generalisierte Erklärung schwer, ist möglicherweise sogar (noch) unmöglich.

Ein grundlegender, für das Verständnis der sexuellen Dysfunktionen vielleicht sogar der bedeutsamste Unterschied zwischen der neurobiologischen Steuerung des Sexualverhaltens von Ratte und Mensch liegt darin, dass der Mensch über sehr viel umfassender ausgestaltete und differenziertere Hemmungssysteme verfügt, die notwendig sind, um sexuelle Reaktionen (ebenso wie aggressives Verhalten) in das ungleich komplexere Sozialverhalten der Menschen einzupassen und so Schaden oder Gefahren für das Individuum wie für die Gemeinschaft zu verhindern. Vereinfacht ausgedrückt: Ratten paaren sich, weil sie innere oder äußere Reize wahrnehmen, die die Paarung in Gang setzen. Menschen dagegen betten ihr sexuelles Verhalten in ihr soziales Verhalten ein und setzen Verhaltensweisen um, die - im Normalfall - eine gegenseitige Akzeptanz voraussetzen.

Das menschliche Sexualverhalten wird also von zwei gegensätzlichen Systemen gesteuert - dem Erregungs- und dem Hemmungssystem. Bei Menschen ohne sexuelle Probleme ist dieses System in einem (wenn auch empfindlichen) Gleichgewicht. Menschen, die unter sexuellen Problemen leiden dagegen, weisen ein Missverhältnis zwischen Erregungs- und Hemmungssystem auf.