Der Begriff „Orgasmus“ kommt aus der griechischen Sprache und bedeutet „mit Lust anschwellen“ und „vor Begierde strotzen“. Das Adjektiv „orgiastisch“ bezieht sich ebenfalls auf ein ekstatisches, herausragendes Gipfelerlebnis.
Einen Orgasmus zu erleben, ist zweifelsohne eine schöne Sache, doch die oben genannten Zuschreibungen können durchaus auch einschüchtern und Druck machen.
Was kommt da auf mich zu? Was muss ich da tun? Was muss ich da aushalten? Mach ich es gut genug? Was passiert mit mir? Verlier ich die Kontrolle über mich und mein Tun? Kann ich da nachher meinem Partner/ meiner Partnerin noch in die Augen schauen?
Allein diese Aussagen zeigen, dass es jede Menge Hindernisse auf dem Weg zum Orgasmus gibt. Erwartungen, Ängste, Glaubenssätze, sich nicht oder nur schwer fallen lassen zu können, Druck, Stress aber auch Konflikte in der Beziehung, mangelndes Wissen um den eigenen Körper, die eigenen sexuellen Bedürfnisse und eine Kommunikationsfähigkeit darüber können zu erheblichen Orgasmusproblemen führen.
Definition
Von einer Orgasmusstörung (Anorgasmie) der Frau spricht man dann, wenn die Frau nie, nur selten oder stark verzögert zum Orgasmus kommt und zwar auch dann, wenn sie zuvor sexuell erregt war.
In der PRESIDE-Studie, die in den USA durchgeführt wurde und in der mehr als 31.000 Frauen befragt wurden, berichteten 44,2 Prozent der befragten Frauen, dass sie an sexuellen Problemen leiden. Davon gaben 20,5 Prozent an, Orgasmusstörungen zu haben.
Allerdings sagten von diesen 20,5 Prozent nur 4,7 Prozent, dass dies für sie auch tatsächlich ein Problem darstelle. Das heißt, nicht alle Frauen, die vielleicht nicht immer Lust auf Sexualität haben, keinen oder selten einen Orgasmus bekommen etc. leiden zwingend auch darunter. Sexualität kann von ihnen trotzdem als schön und befriedigend erlebt werden.
Auch finden immer wieder Frauen den Weg in die Sexualberatung, weil sie zwar einen Orgasmus erleben, aber das Gefühl haben, dass er nicht intensiv genug ist und darunter leiden. Hier spielen Bilder des „richtigen Orgasmus“, die von Medien und Gesellschaft transportiert werden, eine wesentliche Rolle.
Wann allerdings die eigene Sexualität als problembehaftet und Leiden verursachend erlebt wird, ist sehr individuell. Leidet die Frau um ihrer Selbst und ihrer Sexualität willen unter dem Ausbleiben des Orgasmus, tut sie sich Gutes, wenn sie professionelle Hilfe in Anspruch nimmt.
Ursachen
So vielschichtig unser sexuelles Erleben und unsere Orgasmen sind, so vielschichtig sind auch die Faktoren, die darauf einwirken können.
Körperliche Ursachen
Oft ist es sinnvoll, das Ausbleiben des Orgasmus auch körperlich abklären zu lassen. Erkrankungen der Schilddrüse, der Nebenniere, der Hirnanhangdrüse und auch neurologische Erkrankungen, Diabetes, Tumoren, sowie Entzündungen können einen negativen Einfluss auf den Orgasmus haben. Auch manche Medikamente, Psychopharmaka, Drogen und Alkohol können das Orgasmuserleben beeinflussen.
Psychische und soziale Ursachen
Psychische und soziale (auf der Beziehungsebene) Ursachen lassen sich leicht mit Felsen oder Unebenheiten vergleichen, die am Wanderweg zum Orgasmus - dem Gipfel der Lust - liegen und das Erklimmen des Gipfels erschweren können. Meistens beeinflusst nicht nur ein Felsen oder eine Unebenheit den Weg, sondern eine Summe an mehreren Dingen.
Übersteigerte Erwartungen
Zu allererst sind wohl übersteigerte Erwartungen an den Orgasmus zu nennen. Dazu gehört etwa die Idee, dass Sex nur dann „echter Sex“ ist, wenn man auch einen Orgasmus erlebt. Und am allerbesten nicht nur einfach irgendeinen Orgasmus, sondern einen Superorgasmus, der einem Feuerwerk gleicht, einer Explosion, einem Erdbeben, bei dem man völlig die Kontrolle verliert.
Denken wir an unser Beispiel der Wanderung auf einen Berggipfel, könnten wir sagen: Eine Wanderung ist nur dann wirklich eine gute Wanderung, wenn man auch wirklich das Gipfelbuch erreicht hat und darin unterschrieben hat - in einer schöneren Farbe und in einer schöneren Schrift als alle anderen GipfelstürmerInnen.
Leistungsdruck
Dieser Gedanke führt natürlich zu immensem Leistungsdruck. Mit all dieser Zielorientiertheit verliert man sehr leicht das wesentliche - nämlich das Genießen der Berührungen und Stimulationen und die Atmosphäre beim Sex - aus dem Blickwinkel.
Das Unterschreiben im Gipfelbuch ist niemals so schön wie die Summe der schönen Momente, die man sich auf dem Weg hinauf zum Gipfel keinesfalls verwehren sollte. Eine Bank, auf der man sich niederlassen und die Aussicht genießen kann, das Spüren des Körpers in seiner Bewegung und Kraft, in Gedanken bei sich sein oder im Austausch mit der Person, die einem auf dem Wanderweg begleitet und mit der/dem man sich versteht und gerne austauscht.
PartnerIn
Die Person, die einem auf dem Weg zum möglichen Gipfel begleitet spielt natürlich auch eine wesentliche Rolle. Der Leistungsdruck bezieht sich oft nicht nur auf den eigenen Orgasmus, sondern auch auf den Orgasmus des Partners oder der Partnerin. Es ist schön, auf die Bedürfnisse des/der Anderen einzugehen und diese erfüllen zu wollen. Doch das ist eine Gratwanderung. Wenn man mit seiner Aufmerksamkeit nur bei dem/der Anderen ist (vielleicht um gefallen zu wollen, eine besonders gute Liebhaberin zu sein), und nicht beim eigenen Körper und seinen Reaktionen, nimmt man sich sehr viel.
Im Vergleich mit der Bergwanderung würde das heißen, ich schaue gar nicht darauf, wie es mir und meinem Körper geht, ob ich noch genug Kraft habe, aus der Puste bin, etwas zu trinken brauche, es die für mich jetzt passende Geschwindigkeit ist, ich gerne mal innehalten würde. Ich schaue nur darauf, dass mein Partner/meine Partnerin alles hat, was er/sie braucht, um gut zum Gipfel zu kommen.
Manchmal machen wir das auch noch, ohne mit unserem Partner/unserer Partnerin zu sprechen. Wir raten also mehr oder weniger blind drauf los, in der Hoffnung, dass wir das richtige Bedürfnis befriedigen. Stellen Sie sich z.B. vor, sie glauben, ihr Partner/ihre Partnerin möchte gerne eine Pause einlegen und etwas essen, aber sie glauben, er/sie hat Durst und halten ihm die ganze Zeit die Wasserflasche hin. Er/sie bekommt nicht das, was er/sie bräuchte und sie beginnen damit an sich selbst zu zweifeln, weil sie merken, dass er/sie unzufrieden wird.
Wenn wir versuchen, auf diese Weise einen Gipfel zu erreichen, ist erstens die Chance klein, diesen auch zu erreichen und die Wanderung selbst scheint auch nicht sehr lustvoll zu sein.
Eigener Körper
Viele Frauen, die Probleme damit haben zum Orgasmus zu kommen, haben oft ihren Körper noch nicht wirklich kennen gelernt. Das Unwissen beginnt bei der Anatomie wie der eigentlichen Größe und Komplexität der Klitoris samt ihren Schwellkörpern und reicht bis hin zu ganz individuellen Dingen wie dem Wissen um Körperzonen, deren Stimulation besonders erregend ist, Art und Intensität der Berührungen, die als angenehm empfunden werden, Vorlieben bzgl. der Atmosphäre, die im Raum herrschen sollte und vielem anderen.
Bekommt eine Frau bei der Selbstbefriedigung einen Orgasmus, nicht aber gemeinsam mit ihrem Partner/ihrer Partnerin, kann es sein, dass die Art der Stimulation durch den Partner/die Partnerin nicht passt. Das bezieht sich auch auf den kurzen Moment bevor der Orgasmus beginnt. Gerade da benötigen viele Frauen eine andere Art der Berührung als sie diese vielleicht noch vorher beim Hinaufwandern der Lustkurve gemocht haben. Manchmal soll diese Berührung dann intensiver sein, manchmal aber auch zarter. Bei vielen Frauen ist die andere Intensität zu diesem Zeitpunkt das, was sie über den Hügel zum Orgasmus bringt.
Ganz besonders Frauen haben oft das Gefühl, nicht gut genug, nicht schön genug zu sein. Das spiegelt sich natürlich auch in der Sexualität wider. Wenn wir uns nicht wohl fühlen in unserem Körper und auch mit unserer Sexualität, verspannen und verkrampfen wir uns leicht. Ein Orgasmus hat es da sehr schwer, zu entstehen und fließen zu können.
Angst
Frauen berichten auch immer wieder darüber, dass sie eigentlich Angst vor der orgiastischen Energiewelle haben. Sie haben Angst davor, die Kontrolle zu verlieren und nicht mehr Herrin ihrer selbst zu sein. Gespeist werden diese Ideen wohl auch durch Bilder, die von den Medien transportiert werden. Tagtäglich sehen wir in Filmen, wie frau bei einem Orgasmus zu schreien und sich wie wild zu bewegen hat. Die Tatsache, dass diese Darstellungen größtenteils überzeichnet sind, schützt viele Frauen - und auch Männer- leider nicht davor, diesen Bildern nachzueifern und sie als „das einzig Wahre“ zu betrachten.
Wir alle sind voll bepackt mit Sätzen, die uns sagen wollen, was richtig und was falsch, brav und böse ist. Diese so genannten Glaubenssätze können zum Beispiel den Orgasmus betreffen. Glaubenssätze, die nicht hinterfragt sind, sperren uns in einen Rahmen einer erwünschten Sexualität. Das kann ebenfalls negative Auswirkungen auf den Orgasmus haben.
Konflikte
Natürlich dürfen wir auch Konflikte auf der Beziehungsebene nicht vergessen. Konflikte und Kränkungen in der Beziehung spiegeln sich gerne in der Sexualität des Paares wider. Hier muss erwähnt werden, dass Kränkungen und Abwertungen nicht zwingend in der aktuellen Beziehung passiert sein müssen, um das sexuelle Erleben zu beeinflussen. Einmal erlebt können sie in der nächsten Beziehung weiter wirken und sich auch dadurch äußern, dass die Frau gemeinsam mit dem aktuellen Partner/der Partnerin keinen Orgasmus bekommt.
Manche Frauen, die mit ihrem Partner/ihrer Partnerin nicht zum Orgasmus kommen, berichten immer wieder, dass sie sich im Alltag nicht angenommen und unterstützt fühlen. Dem Partner/der Partnerin das Erfolgserlebnis ihres Orgasmus zu verwehren, ist eine Möglichkeit zu rebellieren und zu sich zu stehen.
Probleme und Traumata
Nicht zuletzt können auch psychische Probleme und Traumata, die in der Kindheit erlebt wurden, einen Einfluss auf den Orgasmus haben.
Lösungsansätze
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Die wichtigste Strategie ist wohl jene, zu versuchen, dem Leistungsdruck, dem wir auch in unserer Sexualität unterliegen, keine Chance zu geben. Es gibt immer wieder Phasen im Leben, in denen andere Dinge wichtiger sind und mehr Platz einnehmen als unsere Sexualität. Wir müssen nicht immer Lust haben und wir müssen auch nicht immer zum Orgasmus kommen!
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*Der Weg ist das Ziel *oder anders ausgedrückt: Das Unterschreiben im Gipfelbuch ist schön, aber niemals so schön (auch nicht so lang), wie eine bewusst erlebte Wanderung auf den Gipfel.
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Sie sind einzigartig. Das bezieht sich natürlich auch auf Ihre Sexualität. Darauf, was Ihnen gefällt, Ihnen gut tut, Ihnen Lust bereitet. Gehen Sie alleine und gemeinsam mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin auf Entdeckungsreise. Finden Sie heraus, was Sie als sexuelle Frau ausmacht und leben Sie es aus. Genießen Sie es.
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Hinterfragen Sie Ihre Ideen und Glaubenssätze bezüglich Ihrer Sexualität und Ihres Orgasmus.
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Wenn Sie das Gefühl haben, dass ein Problem in ihrer Partnerschaft den Weg zum Orgasmus versperrt, haben Sie den Mut, es anzusprechen und zu klären.
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In einer Sexualberatung oder Sexualtherapie erhalten Sie Hilfe und Unterstützung dabei, sich diesen Themen zu stellen und die Felsen und Unebenheiten aus dem Weg zu räumen oder sie gekonnt zu umgehen.